MYTHOS ALS ZIVILISATIONSKRITIK: DIE PRAGMATISIERUNG EINER ERWEITERTEN NEGATIVEN DIALEKTIK IN WERKEN HEINER MÜLLERS by NORA ZIMMERMANN A THESIS Presented to the Department of German and Scandinavian and the Graduate School of the University of Oregon in partial fulfillment of the requirements for the degree of Master of Arts June 2016 ii THESIS APPROVAL PAGE Student: Nora Zimmermann Title: Mythos als Zivilisationskritik: Die Pragmatisierung einer erweiterten negativen Dialektik in Werken Heiner Müllers This thesis has been accepted and approved in partial fulfillment of the requirements for the Master of Arts degree in the Department of German and Scandinavian by: Sonja Boos Chairperson Dorothee Ostmeier Member Martin Klebes Member and Scott L. Pratt Dean of the Graduate School Original approval signatures are on file with the University of Oregon Graduate School. Degree awarded June 2016 iii © 2016 Nora Zimmermann iv THESIS ABSTRACT Nora Zimmermann Master of Arts Department of German and Scandinavian June 2016 Title: Mythos als Zivilisationskritik: Die Pragmatisierung einer erweiterten negativen Dialektik in Werken Heiner Müllers This thesis analyzes three works of the GDR dramatist Heiner Müller: his early prose poem Orpheus gepflügt, his learning play Mauser, and his late piece Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten. It demonstrates how Müller, throughout different career stages, pragmatizes myth to further critical thinking. Ancient Greek myths and Christian symbolism play a crucial role in Müller’s strategy of calling into question the very systems that lay claim to an absolute truth. Müller both alludes to and openly employs myths to identify their inherent dialectical tension operative in everyday life as well as in secular explanatory models used to legitimize political agendas. He expands Theodor W. Adorno’s concept of negative dialectics through an emphasis on the mythical pole of the dialectical dyad “myth and enlightenment.” By drawing attention to myths inherent in civilization, Müller opens up space for the imagination and the potential of the irrational to initiate change. v CURRICULUM VITAE NAME OF AUTHOR: Nora Zimmermann GRADUATE AND UNDERGRADUATE SCHOOLS ATTENDED: University of Oregon, Eugene Ruprecht Karls Universität Heidelberg, Heidelberg DEGREES AWARDED: Master of Arts, German, 2016, University of Oregon Magister Artium, Ethnologie (1.HF)/Religionswissenschaft (2.HF), 2010, Ruprecht Karls Universität Heidelberg AREAS OF SPECIAL INTEREST: 20th century German Literature across different Genres Gender theories Religion and Mythology as topics in German Literature PROFESSIONAL EXPERIENCE: GTF, University of Oregon, 2014- 2016 Teacher, Clase Barcelona (Spain), 2014- 2013 PR-Assistant, Circle Comm (Darmstadt, Germany), 2012- 2013 Market Research Intern, september Strategie & Forschung (Köln), 2012 GRANTS, AWARDS, AND HONORS: Beth Marveety Study Abroad Scholarship, Department of German and Scandinavian, 2015 DAAD Scholarship for Research Abroad, DAAD, 2010 vi PUBLICATIONS: Breininger, Lilli und Nora Zimmermann. “Was haben das Jesuskind und Couchsurfing gemeinsam? Zahlen und Fakten rund um den Tourismus in den Philippinen”. Südostasien (1/ 2011), 73-77. Zimmermann, Nora. “Die Qual der Wahl? Was junge Filipinas in der Gestaltung der persönlichen Zukunft beeinflusst”. Südostasien (2/ 2012), 51-53. vii ACKNOWLEDGMENTS I wish to express sincere appreciation to Professor Sonja Boos for her assistance in the preparation of this manuscript. In addition, special thanks are due to all supporting members of the Department whose familiarity with the needs and ideas of this project were extremely helpful. Special thanks goes to my dear colleagues Eva Hoffmann and Kizzi van Lake and my beloved sister Marina for their moral, academic and creative support. viii TABLE OF CONTENTS Chapter Page I. EINLEITUNG ……………………………………………………………………………..1 Der Mythos als literarisches Instrument in Heiner Müllers Sprachkunst………..……….2 Der Begriff des Mythos bei Heiner Müller……………...………………………………..5 II. DIE PRAGMATISIERUNG DES MYTHOS IN MÜLLERS PROSAGEDICHT “ORPHEUS GEPFLÜGT”………………………………...……………………………...9 Stand der Forschung zu Heiner Müllers Lyrik………………………………………….13 Die Pragmatisierung des Absoluten Gedichts durch den Einsatz von Dialektik…..........14 Die Revidierung des Orpheus-Mythos in „Orpheus gepflügt“……………………….....17 Vergleich von Orpheus und Odysseus im Sinne der Dialektik der Aufklärung...21 “Orpheus gepflügt” als Reflexion über die Dichtkunst………………………....23 “Orpheus gepflügt” als politische Stellungnahme………………………………25 Die Reprise des Orpheus-Mythos als Klage: „Dunkel Genossen ist der Weltraum“…...28 III. DIE FUNKTION DES MYTHOS IN HEINER MÜLLERS LEHRSTÜCK “MAUSER”….32 Mythos als Ambivalenzfaktor im teleologisch ausgerichteten Lehrstück……………....33 Müllers Lehrstück “Mauser” im Vergleich zu “Die Maßnahme”……………………....34 Analyse von “Mauser” im Hinblick auf eine Pädagogisierung……………………...….40 Das Zusammendenken von christlicher Mythologie und kommunistischer Utopie…….47 Heiner Müllers Abkehr vom Lehrstück als wirkungsvollem Theater: „Damit etwas kommt muss etwas gehen“……………………………………………………………...50 IV. MIMESIS AN DEN MYTHOS ALS PÄDAGOGISCHES ELEMENT IN MÜLLERS MEDEA-DRAMA……………………………………………………………. …………….54 Der Einsatz des Mythos als Plädoyer für das Subjekt…………………………………..55 ix Chapter Page Die Spannung zwischen mythischen und banalisierenden Elementen in Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten……………………………………….57 Mythos als kollektiver Erfahrungsgrund in Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten……………………………………………………………..63 Erster Teil „Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten“……64 Zweiter Teil „Medeamaterial Landschaft mit Argonauten“………………………..68 Dritter Teil „Landschaft mit Argonauten“…………………………………………73 Mythos als Zivilisationskritik: “Flucht vor einer unbekannten Katastrophe“……...…...80 V. ZUSAMMENFASSUNG……………………………………………………………………89 LITERATURVERZEICHNIS…………………………………..…………………………...93 1 CHAPTER I Einleitung Die Banker sitzen, in blasse Stoffe gekleidet, neben ihren gefrorenen Frauen, und sehen sich sein politisches Fäkal-Theater an. Scheiße, Hure, Schlächter, Messer, Wunde, Arsch – ihm ist es gelungen, daraus große Worte zu machen. Über allem liegt sinnige Ehrfurcht, schicksalhaftes Erdulden, das, worauf man in Deutschland stolz ist. (Noll 1990 in Die Welt) Bei „ihm“, dem es gelungen ist „daraus große Worte zu machen“, handelt es sich um niemand Geringeren als den bekannten DDR-Dramatiker Heiner Müller, der in dieser Rezension allerdings nicht sehr positiv bewertet wird Der 1929 in Sachsen geborene Schriftsteller ist im Laufe des 20.Jahrhunderts zu einem der wichtigsten Theaterautoren der DDR und später auch des wiedervereinigten Deutschlands geworden. Wie das obige Zitat aus einer Rezension aus Die Welt zeigt, wird sein zum Teil derber Stil nicht von allen positiv bewertet. Dies ist nicht verwunderlich, denn wie Norbert Eke in seinem Einführungswerk über Heiner Müller schreibt, „steht das Werk Heiner Müllers innerhalb der Theaterlandschaft der Bundesrepublik für ‚fremde‘ und verstörende Erfahrung“ (7). Dies resultiert einerseits aus der Themenwahl, da seine Werke oft Gewalt und blutige Szenen aufgreifen, und andererseits aus seinem Umgang mit Sprache, in welchem mit Tabus belegte Sprachkonventionen häufig durchbrochen werden. Heiner Müller möchte damit „die Gesellschaft an ihre Grenzen“ führen (Gesammelte Irrtümer 1 59). Entgegen mancher seiner Behauptungen verfolgt er dabei politische Ziele (Theweleit 7). Auffällig ist in vielen von Heiner Müllers Werken der Rückgriff auf Themen, die aus der griechischen 2 Mythologie bekannt sind. Auch diese Anleihen an den Mythos gehen mit Müllers Haltung zur politischen Erziehung konform. Der Mythos als literarisches Instrument in Heiner Müllers Sprachkunst Wie diese Arbeit anhand der Analyse von drei Werkbeispielen zeigt, werden mythische Elemente im Kontrast mit banalisierenden Elementen eingesetzt, um die Ambivalenz von Paradigmen und gesellschaftlichen Zuständen der zeitgenössischen Gesellschaft erkenntlich zu machen. Diese Vorgehensweise hat den Effekt einer kritischen politischen Erziehung, welcher am besten aus dem Blickwinkel einer erweiterten negativen Dialektik Adornos zu verstehen ist. Die vorliegende Arbeit erläutert die Beziehung zwischen der Rolle des Mythos in Heiner Müllers Werk, seinem erzieherischen Anspruch an sein Werk und dem Einfluss der Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Die genauere Betrachtung von drei Werken Heiner Müllers aus unterschiedlichen Schaffensperioden zeigt, wie er durch die Verwendung mythischer Elemente eine Pragmatisierung der negativen Dialektik vornimmt, in der es nicht um die Bildung einer Synthese, sondern um das Abbilden des Nichtidentischen geht. Unter „Pragmatisierung“ ist in dieser Arbeit die Umsetzung philosophischer Konzepte im literarischen Vorgehen zum Zwecke der politischen Erziehung zu verstehen. Obwohl Heiner Müller angibt, sich nie für philosophische Fragen an sich interessiert zu haben1, prägt die Idee der negativen Dialektik sein Werk. Daher geht diese Arbeit entgegen Müllers eigener Aussage davon aus, dass er eine Pragmatisierung des philosophischen Konzepts der negativen Dialektik verfolgt. Dies zeigt sich zum Beispiel im Einsatz von negativen Extremen und Tabus als 1 Er schreibt: „Auch Philosophie ist für mich immer nur Material gewesen. Ich habe mich für philosophische Fragen nie interessiert“ (Gesammelte Irrtümer 3 153). 3 dialektischen Kontrastpolen in seinen Stücken. Dadurch, dass die dialektische Konzeption des Alltags in der Moderne durch den Rezipienten erkannt wird, beginnt ein Reflektionsprozess, welcher der Verschleierung entgegen wirken und den Rezipienten aus seiner Lethargie reißen kann. Dieses Vorgehen spiegelt Müllers Auffassung wider, dass durch Differenz, in diesem Falle die Differenz zwischen dialektischen Polen, Bewegung ausgelöst wird, welche den ersten Schritt zur Veränderung darstellt. Unbequemlichkeit und Schmerz sind dabei sinnvoll, da sie den Menschen dazu zwingen, sich mit verdrängten Themen auseinanderzusetzen. Der durch Uminterpretierung und Banalisierung gebrochene Mythos macht die Spannung zwischen irrationalen Denkmustern und rationalem Denken erfahrbar. Er dient somit als Anstoß eines erzieherischen Denkprozesses, der die Postulierung allgemeingültiger Systeme hinterfragt. Zudem entsteht vor dem Auge des Rezipienten von Müllers literarischen Texten die Negativfolie des Beschriebenen, wenn durch Phantasie ein utopischer Gegenentwurf zu den von Müller geschilderten Szenarien aufscheint. Die Art und Weise, wie mythische Elemente neben dem Bruch mit Sprachkonventionen ein weiteres politisches Moment in Müllers Werk einbringen, wird anhand des Prosagedichts Orpheus gepflügt (1950er Jahre), des Lehrstücks Mauser (1970er Jahre) und des Stücks Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten (1980er Jahre) untersucht. Diese literarischen Werke repräsentieren drei Phasen in Heiner Müllers Schaffen, in denen Anklänge an den Mythos jeweils auf unterschiedliche Art und mit unterschiedlicher Intention eingesetzt werden. Zunächst schlägt sich in Heiner Müllers Schreiben während der Aufbauphase der DDR seine direkte Forderung nach einer breitenfähigen, das heißt auch dem Proletariat zugänglichen, anwendbaren Kunst nieder. Er greift auf den Mythos zurück, um an den Grundstock der kollektiven Assoziationen zu appellieren. Da mythische Themen vielfältig und über Jahrhunderte 4 hinweg tradiert wurden, sind die Grundmuster der Mythen in die kollektive Erinnerung übergegangen und nicht nur den Intellektuellen einer Gesellschaft präsent. Dies ermöglicht es mittels der Assoziationen, die mit mythischen Motiven verknüpft sind einen emotional wirksamen Text zu verfassen. Gleichzeitig nimmt Müller durch den Bezug auf Tabus eine Revision der mythischen Elemente vor. Er lässt dabei implizit Thesen von Hegels und Marx’ Dialektik einfließen (Eke 38). Eine gesellschaftliche Utopie als Gegenentwurf zum geschilderten Sachverhalt deutet sich als teleologisches Endziel an. Im Laufe der 1960er Jahre wendet sich Heiner Müller noch stärker einer engagierten Kunst zu, indem er die Mitwirkung des Publikums im Sinne des Lehrtheaters von Bertolt Brecht in seine Stücke integriert, wobei er dessen Konzept des „Lehrstücks“ erweitert. Die Verfremdungtechnik, die in Brechts Lehrstücken im Vordergrund steht, wird bei Müller durch das Aufzeigen verschiedener Ebenen der Ambivalenz auf die Spitze getrieben und durch den Mythos ergänzt, um seinem kritischen Anspruch mehr Gewicht zu verleihen. Müller erzeugt somit eine nahezu enigmatische Denkaufgabe, die unbewertet an den Leser weitergegeben wird. Zuletzt wird in dieser Arbeit eine Schaffensperiode in den 1970er Jahren beschrieben, die stark von Adornos Ideen zur negativen Dialektik und zur Ästhetik geprägt ist. Müller versucht diese in seinem literarischen Schaffen umzusetzen, wodurch sich scheinbar dystopische Szenarien ergeben, die sich jedoch bei näherer Betrachtung als Negation der Negation entpuppen. Mythologische Elemente werden hier dem von Adorno beschriebenen mimetischen Prinzip folgend eingesetzt, um die Verwandtschaft zwischen aufklärerischen Zivilisationsmythen und antiken Ideen von Unantastbarem aufzuzeigen. 5 Der Begriff des Mythos bei Heiner Müller Der griechische Begriff „Mythos“ hat im Diskurs der europäischen Wissenschaftsstradition eine lange Geschichte vorzuweisen, in der immer wieder in Frage gestellt wurde, was die Grundelemente des Mythos sind und welche Funktion er erfüllt (Canaris 11). Als konstituierende Elemente des Mythos wurden unter anderem die Bedeutung der Symbole, der Grad der Abstraktion, das Weltdeutungsbestreben, die Depotenzierung des Schrecklichen oder die Dialektik von Humanität und Barbarei angeführt (Horn 2). Eine allgemein akzeptierte Definition von Mythos hat sich jedoch weder in der Literaturwissenschaft noch in der Religionswissenschaft oder der Ethnologie herausgebildet (Levi-Strauss 428). Dieser Arbeit soll ein operationalisiertes Verständnis von Mythos ähnlich dem des Literaturwissenschaftlers Christian Horn zu Grunde gelegt werden. Horn bezeichnet als Mythen Erzählungen über Naturphänomene, die zunächst mündlich, später auch bildlich und schriftlich tradiert wurden (Horn 19). In diesen narrativen Tradierungen wird auf einen „kosmischen oder übernatürlichen Bezugsrahmen“ verwiesen. Häufig klären Mythen als Schöpfungserzählungen menschliche Grundfragen und rechtfertigen spezifische Verhaltensmuster, wie zum Beispiel die Weitergabe von Herrschafts- oder Besitzansprüchen (19). Sie weisen in diesem Sinne oft eine politische Komponente auf. Um Mythen verschiedener kultureller Systeme parallelisieren zu können, führt Levi- Strauss das Konzept des Mythems ein (Levi-Strauss 428, 429). Mytheme sind Strukturelemente eines Mythos, die durch Vergleiche und Analysen aufgedeckt werden können (431). Diese Elemente erhalten ihre Bedeutung nur in Beziehung zu anderen Elementen des Mythos. Heiner Müller scheint in seinem Umgang mit mythischen Stoffen von dieser Idee inspiriert zu sein. Er verwendet dafür den Begriff „Strukturelement“: „Der Künstler spielt mit den Strukturelementen, 6 setzt die Realitätspartikel neu zusammen“ (Jenseits Der Nation 72). In Bezug auf die Rezeption des Medea-Themas können die Allianz zwischen Medea und Jason und die Situation von Medea im Exil als Bausteine des Mythos gelten, die einen Wiedererkennungswert des Medea-Themas ausmachen. Diese zwei Grundsituationen des Medea-Mythos finden sich auch in der Handlungsstruktur des Müller'schen Medea-Dramas Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten (Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten 73; 79). Müllers Medea-Stück weist darüber hinaus sowohl auf inhaltlicher als auch formaler Ebene viele weitere Elemente auf, die auf einen mythischen Kontext verweisen. Diese stehen jedoch häufig direkt neben inhaltlich nahezu nihilistischen Beschreibungen der Alltagswelt. Durch diesen Kontrast entsteht ein Eindruck, der als „entmythisierend“ beschrieben werden kann. Die Begriffe „entmythisierend“ und „remythisierend“, die vermehrt im Diskurs um mythenbezogene Literatur auftauchen, sind jedoch äußerst vorsichtig zu verwenden, da der Ausgangspunkt „Mythos“ selten klar definiert werden kann. Wie Konrad Kenkel schreibt, bezeichnen im literaturwissenschaftlichen Diskurs um Mythenrezeption die Begriffe „Entmythisierung“ und „Remythisierung“ den unterschiedlichen Grad der Bezugnahme auf klassische Mythen (3). In einer Bearbeitung, in der zum Beispiel ein Mythos auf seinen „Kern“ reduziert wird, Mythologeme neu kombiniert und Handlungen mit der eigenen Intention des Autors angereichert werden, liegt laut Kenkel eine Entmythologisierung vor (ibid.). In diesem Falle wird der Bezugs-Mythos säkularisiert, indem inhaltliche und sprachliche Elemente aus dem Bedeutungsfeld des Übernatürlichen, wie beispielsweise das Agieren von Göttern, entfernt und menschliche Motive eingeführt werden. Diese Betrachtung setzt mindestens einen antiken Bezugstexts, einen Hypotext, als Ausgangspunkt voraus (Horn 37). So gilt die literarische 7 Bearbeitung des Euripides als einer der wichtigsten Hypotexte zu Heiner Müllers Medea- Version. Gleichzeitig kommen in Müllers Medea-Stück auch Referenzen auf christliche Rituale zum Ausdruck. Es ist unbedingt darauf zu achten, dass in der Rezeptionsanalyse von Mythen zahlreiche Prätexte, das heißt vor-schriftliche Erzählungen, miteinbezogen werden sollten (34). Problematisch erscheint am Konzept von Re- und Entmythisierung auch die im Zusammenhang stehende These „Vom Mythos zum Logos“, welche die geschichtliche Entwicklung von einem mythisch-archaischen Weltbild zu einem aufgeklärten-modernen abbildet (21 f). Christian Horn kritisiert diesen Ansatz, da ihm die umstrittene Unterscheidung von „mythischem“ und „wissenschaftlichen“ Denken zu Grunde liegt, in welcher mythologischen Erklärungen eine Irrationalität unterstellt wird. Diese Unterstellung ist jedoch nicht haltbar, da Mythen, wie unter anderen Adorno und Horkheimer in der Erstausgabe der Dialektik der Aufklärung 1944 aufzeigten, ihrer ganz eigenen Logik und Rationalität folgen (22). Johanna Canaris unterstützt diese These und ergänzt, dass der Mythos gerade durch seine Wandelbarkeit und den kritischen Umgang mit der Realität gekennzeichnet ist: „Ein offener Mythos muss (und kann) nicht vollständig dekonstruiert werden, da er sich durch seine Offenheit und Veränderbarkeit auszeichnet und gerade im kritischen Umgang seine Realität behauptet“ (13). In Müllers Umgang mit den mythischen Stoffen kommt eine ähnliche Auffassung zum Tragen. Er operiert mit einem funktionalistischen Mythenbegriff, bei dem er die Vorzüge herausstellt. „(…) Mythen sind Kondensate, Verdichtungen von kollektiven Erfahrungen, und die kann man immer neu interpretieren und auch immer neu darstellen“, erklärt er in einem Interview der 90er Jahre (Günther der Bruyn- Christoph Hein- Heiner Müller. Drei Interviews 56). Als Dramatiker bedient sich Heiner Müller der Mythen als ästhetischem Material2, welches 2 vgl. Filho Seite 50 8 in Anlehnung an Adornos Theorie der Ästhetik dabei hilft, zwischen Gesamtgesellschaft und Kunst zu vermitteln (Ullrich 872). Als „mythische“ Elemente werden in dieser Arbeit die Betonung der zyklischen Weltdeutung und Struktur angesehen sowie die Hervorhebung des „Archaischen“, wobei hierunter meist Rätselhaftes, Blutrünstiges und Brachiales verstanden wird (Horn 59). Die Häufung dieser Elemente ruft dann die Assoziation von Mythos hervor. 9 Chapter II Die Pragmatisierung des Mythos in Müllers Prosagedicht „Orpheus gepflügt“ Orpheus der Sänger war ein Mann der nicht warten konnte. Nachdem er seine Frau verloren hatte, durch zu frühen Beischlaf nach dem Kindbett oder durch verbotenen Blick beim Aufstieg aus der Unterwelt nach ihrer Befreiung aus dem Tod durch seinen Gesang, so daß sie in den Staub zurückfiel bevor sie neu im Fleisch war, erfand er die Knabenliebe, die das Kindbett spart und dem Tod näher ist als die Liebe zu Weibern. Die Verschmähten jagten ihn: mit Waffen ihrer Leiber Ästen Steinen. Aber das Lied schont den Sänger: was er besungen hatte, konnte seine Haut nicht ritzen. Bauern, durch den Jagdlärm aufgeschreckt, rannten von ihren Pflügen weg, für die kein Platz gewesen war in seinem Lied. So war sein Platz unter den Pflügen. (Heiner Müller, Orpheus gepflügt 1949/1959) Eine Betrachtung von Heiner Müllers frühem Gedicht Orpheus gepflügt zeigt, dass Müller bereits in seinen frühen Jahren den griechischen Mythos aufgreift, um das „irrationale Andere“ und das „rationale der rezenten Gegenwart“ zusammenzubringen. Heiner Müllers Lyrik behandelt nie nur die Fragestellungen der mythischen Hypotexte, sondern immer auch Phänomene der Gegenwart. Das unkonventionelle Spiel mit den Polen Humanismus und Barbarei ermöglicht die Mobilisierung des Rezipienten durch Tabubruch. Orpheus gepflügt liefert als solches Beispiel die Parallelisierung von Orpheus‘ grenzenloser Liebe, welche sich in Tradierungen des antiken Mythos findet, mit seinem tödlichen, unhaltbaren Sexualtrieb. Der 10 Leser des Prosagedichts muss diese beiden Extreme zusammendenken und die verbindenden Elemente außerhalb des Textes konstruieren. Müller ist bemüht eine Gebrauchskunst zu erzeugen, die zu aktivem Handeln auffordert. Von seinem Vorbild Brecht unterscheidet ihn, dass Müller in seinen Texten mehr Ambivalenzen möglicher Deutungsmuster aufzeigt und dem Rezipienten somit einen größeren Spielraum lässt. Sein Gedicht appelliert an eine semibewusste Ebene der Leserpsyche, indem es Themen aufnimmt, die mit Tabus belegt sind, diese jedoch als selbstverständlich präsentiert. Die tabuisierten Konzepte werden schemenhaft angedeutet und in Form von mythischen Anleihen abgebildet. Auf diese Art thematisiert der Text gesellschaftliche Traumata, die durch Tabus verschleiert werden3, ohne explizit normativ zu sein. Der Text stellt somit eine Möglichkeit der vorsichtigen Auseinandersetzung mit emotional aufgeladenen Themen dar. In diesem Zusammenhang nimmt Müller auf die These Theodor W. Adornos zur Unmöglichkeit der Lyrik nach Ausschwitz4 Bezug und schreibt: „Adornos These ist völlig kapitulantenhaft. Das Gegenteil ist richtig- nach Ausschwitz nur noch Gedichte“ (Jenseits der Nation 43). Dieses Zitat verdeutlicht die Auffassung, dass Poesie für das Individuum und die Gesellschaft eine nicht anderweitig zu ersetzende Funktion erfüllt. 3 In späteren Jahren nähert sich Müllers Technik der Textkomposition bewusst den psychischen Mechanismen von Traumata an. Alexandra Campana führt in diesem Zusammenhang in Bezug auf Müllers Bildbeschreibung den Begriff des „Traumtextes“ ein. Sie erläutert die Ähnlichkeit zwischen „Traumtext“ und „psychotraumatischem Effekt“: „In der von ihm verursachten Konfusion sagt sich der literarische Traumtext vom Modell kohärenter sprachlicher Produktion grundsätzlich los“ (5). 4 Adorno schrieb 1951 in seinem Aufsatz Kulturkritik und Gesellschaft: „Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.“ (30). In den 1960er Jahren erklärt Adorno, dass dieses Zitat sich nicht auf eine grundsätzliche Unmöglichkeit oder Unnötigkeit von Lyrik bezieht, sondern in erster Linie die direkte Wirksamkeit von Lyrik im Sinne einer engagierten Kunst anprangert. 11 In seinem Aufsatz Heiner Müller als Lyriker schildert Theo Buck, wie sehr in Müllers Schriften die verschiedenen literarischen Genres ineinanderfließen, – vor allem Lyrik und Drama sind demnach eng verwoben. Er weist zudem darauf hin, dass das literarische Schaffen Müllers in den frühen Jahren stark von Wladimir Majakowskis und Brechts Ideen und Forderungen an Lyrik beeinflusst ist (137). Der Grundgestus seines Schreibens ist die exemplarische Vorführung von Situationen, die meist in einfacher und leicht plakativer Satz- und Versstruktur erfolgt (Buck 137). Von Majakowski übernimmt Müller den Umgang mit Worten und Wortzusammenstellungen als Material (137). In seinen Stücken greift er gern auf bereits vorhandenes Material zurück, so unter anderem auf bekannte Stücke, aber auch auf Volksgut oder berühmte Sätze aus den Medien. Einige Autoren sprechen von „Übermalung“ als Gestus in den Texten, in denen Müller besonders stark auf andere Stücke Bezug nimmt (135). Als eine Fortführung von Brechts Maßnahme kann Mauser hierfür als Beispiel angeführt werden. Müller greift in diesem Lehrstück selektiv einzelne Sätze oder Formulierungen auf, die er für besonders prägnant hält. Diese Technik geht soweit, dass er sich des Öfteren selbst zitiert. So tauchen Elemente seiner frühen Gedichte auch in späteren Stücken wieder auf. Klaus Theweleit schreibt, dass Müller in seinen Interviews „Müllersätze“ formuliert, die als „Wortstacheln“ funktionieren und Denkprozesse anstoßen (Theweleit 2). Solche Wortstachelsätze greift Müller in seinem lyrischen Schreiben immer wieder auf, um einen aktiven Prozess beim Leser oder Zuschauer auszulösen (Buck 137). Sowohl Majakowski als auch Brecht forderten eine Literatur, die nicht nur den Eliten, sondern auch dem Proletariat zugänglich ist. Bei Müller findet sich diese „Ablehnung von Exklusivität“ ebenso (Buck 137). Noch 1989 schreibt Müller in einer Stellungnahme zu seinem Auftreten bei einer Großdemo: 12 Entscheidend ist, daß endlich die Sprachlosen sprechen und die Steine reden. Der Widerstand von Intellektuellen und Künstlern, die seit Jahrzehnten privilegiert sind, gegen den drohenden Ausverkauf wird wenig ausrichten, wenn ein Dialog mit der lange schweigenden oder Fremdsprachen redenden Mehrheit der jahrzehntelang Unterprivilegierten und im Namen des Sozialismus Entrechteten nicht zustande kommt. (Krieg ohne Schlacht 426) An dieser Stelle fordert Müller durch die paradoxale Formulierung „die Sprachlosen sprechen und die Steine reden“ das Unmögliche. Diese Wortwahl kann als Litotes verstanden werden und drückt die Dringlichkeit seines Anliegens aus, dass „ein Dialog mit der lange schweigenden oder Fremdsprachen redenden Mehrheit“ erfolgen muss. Müller spricht an dieser Stelle der Gruppe der Intellektuellen und Künstler, also der Gruppe, der er selber angehört, die Fähigkeit ab, Veränderungen zu bewirken, wenn sie nicht den Austausch mit der ausgebeuteten und unterdrückten Mehrheit suchen. Diese These impliziert, dass Intellektuelle und Künstler, wenn sie ebendiesen Dialog mit der Masse suchen, zu gesellschaftlichen Veränderungen beitragen können – eine Annahme, die Müllers Forderung an die Kunst entspricht. Durch den Hinweis „der im Namen des Sozialismus Entrechteten“ kommt in diesem historischen Moment in Deutschland kurz vor dem Mauerfall außerdem eine scharfe Regimekritik hinzu. Schon Müllers frühe Lyrik in den 1950er Jahren spiegelt in diesem Sinne meist Brechts Ideen von engagierter Dichtung und Gebrauchslyrik wieder (Ebrecht 43). Vor allem in seinen frühen Gedichten scheint es, als ob Müller „ernsthaft darum bemüht“ gewesen sei, „aktiv am Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft mitzuwirken“ (Buck 137). In den 50ern, so Katharina Ebrecht, ist es demnach Müllers Anliegen „für den Sozialismus zu werben“ (27). Seine Zielgruppe ist dabei die nicht-privilegierte Mehrheit. So verfasst Müller zum Beispiel von Brechts 13 Kinderliedern beeinflusste Kindergedichte, in denen er bekannte Volklieder einbaut und umarbeitet. In Müllers Aufbauliedern werden zwar auch Probleme des Sozialismus angesprochen, es drückt sich aber dennoch eine „feste Zuversicht“ aus (49). Ebrecht geht so weit, die Lyrik des jungen Heiner Müller auf Grund ihrer „mangelnde Eigenständigkeit“ zu kritisieren (38). Stand der Forschung zu Heiner Müllers Lyrik Im letzten Jahr vor Heiner Müllers Tod erschien der Gedichtband Warten auf der Gegenschräge – eine Ausgabe seiner gesammelten Gedichte, die auch einige bis dahin unveröffentlichte lyrische Texte enthält. Darin findet sich auch das „erzählende“ Gedicht Orpheus gepflügt5 (Warten auf der Gegenschräge 43). Mit diesem Gedicht fügt sich Müller neben Rilke und Benn in die Reihe der zahlreichen Dichter ein, die Orpheus zu einem Thema ihrer Poesie machen. In Heiner Müllers Schaffen stellt das Gedicht eine der ersten ungebrochenen Auseinandersetzung mit einem Stoff der antiken Mythologie dar (Saporiti 150). Solche Anklänge finden sich in vielen folgenden Werken Müllers, wobei vor allem seine Stücke der 1960er und 1970er Jahre von mythischen Themen durchdrungen sind. Dies erklärt sich dadurch, dass Mythen von Müller als „Material“ betrachtet werden, das heißt als kultureller Fundus, an dem sich ein Schriftsteller bedienen kann. Jedoch nimmt mythisches Material eine herausragende Stellung gegenüber anderem „Material“ ein, da die mit Mythen verknüpften Konzepte und Emotionen auf Grund ihrer häufigen und Epochen überdauernden Rezeption von einer großen Gruppe geteilt werden. Wie durch eine mehrfache Erwähnung in Reden und Interviews ersichtlich ist, stellt der kurze lyrische Text Orpheus gepflügt für Müller ein Gedicht 5 Zur Datierung des Gedichts finden sich unterschiedliche Angaben. Saporiti datiert es auf 1949 und Emmerich auf 1958/59 (Saporiti 150, Emmerich (A) 59/ (B) 342) 14 besonderer Relevanz dar, auf das er in späteren Jahren in einer zweiten Version des Gedichts6 zurückkommt (Emmerich (A) 59). Im folgenden Abschnitt wird untersucht, wie Heiner Müller durch die Neukontextualisierung des mythischen Orpheus-Themas, oder (wie er selbst sagen würde) „Orpheus-Materials“, in seiner Lyrik politische Ideen ausdrückt. Dazu soll die Struktur des Gedichts in Beziehung zu Heiner Müllers Biographie betrachtet werden, da sich Müllers Schwerpunktsetzung hinsichtlich der Themenwahl seiner literarischen Texte im Laufe seines Lebens in dem Maße ändert, wie sich auch das Umfeld seines künstlerischen Schaffens von einem Vorsozialistischen hin zu einem Postsozialistischen wandelt. Es wird anhand der Analyse der beiden Varianten von Orpheus gepflügt aufgezeigt, dass Heiner Müller in seinen literarischen Anfangsjahren eine Poesie fordert, die einen pragmatischen Nutzen für die Gesellschaft aufweist. Geprägt durch die Aufbruchsstimmung in der frühen DDR und den Einfluss Brechts befürwortet Müller das Mitwirken der Literaten am Aufbau der neuen Gesellschaft. Die Pragmatisierung des Absoluten Gedichts durch den Einsatz von Dialektik Am Anfang seiner literarischen Karriere ist es Müllers Ziel, einen „lyrischen Dialog“ zu konzipieren (Buck 131). Er folgt darin der Forderung Michail Bachtins nach „Dialogizität“, in der „sprachliche Äußerungen“ nur im Zusammenhang mit „vorausgegangenen und folgenden Äußerungen“ betrachtet werden können (Ebrecht 33). In den 60er Jahren kristallisiert sich Müllers lyrischer Stil als Langgedicht in freien Rhythmen heraus, bei dem sich lange, stark rhythmische Verse über mehrere Zeilen erstrecken (ibid. 29). Die Grenzen zwischen Lyrik und 6 In dieser Arbeit wird diese Version als Orpheus gepflügt (2) zitiert. 15 Dramatik sind dabei fließend. Später, gegen Ende der DDR, hält Müller den direkten Dialog für unmöglich und wendet sich stärker Monologen zu (Buck 134). Buck meint daher, dass in dieser Phase Müllers Texte als Zeugnisse „der Selbstinszenierung“ zu betrachten seien. Dabei, so Buck, ist diese Form der Selbstinszenierung in der Lyrik nicht als ein Schreiben für sich selbst zu verstehen, sondern als „Vermittlung exemplarisch verstandener individueller Erfahrung als Herausforderung für Leser und Hörer“ (ibid.). Sowohl in seinen Stücken als auch in den meisten seiner Gedichte ist Müllers lyrische Sprache von einer „inneren Spannung“ gekennzeichnet, die durch Erzeugung und Brechung von poetischen Mustern entsteht (ibid. 132). In einigen von Müllers Stücken sticht auch der rhythmische Textfluss hervor (ibid. 133). Sonia Saporiti bezeichnet Müllers Sprache als „poetische Prosa“, die teilweise im Kontrast zu ihren Inhalten demythologisierend wirkt (150). Durch die Reprise von Themen aus der antiken Mythologie entsteht ein Sprachgestus, der klar abgegrenzt ist von der „Programmdichtung im Geiste Majakowskis und Brechts“(Buck 140). Müller fügt hier durch den Umgang mit dem „Assoziationsnetz des unerschöpflichen Bereichs mythischer Bilder“ seiner Lyrik eine weitere Ebene hinzu (ibid.). Der Materialfundus des Mythos stellt Müller Bilder zur Verfügung, die bereits in den Köpfen eines Großteils der Bevölkerung verankert und somit Teil der „kollektiven Imagination“ sind. Da es für Heiner Müller laut Saporiti keinen Gegensatz zwischen Geschichte und Mythos gibt, können diese Bilder hervorragend zur Zeitkritik herangezogen werden (Saporiti 151). Müller weist dieser Art von anachronistischem Vorgehen ein „schöpferisches“ Potential zu. In diesem Sinne erkennt er in den mythischen Stoffen eine „anregende Kraft“, die dazu dient, eine kritische Reflexion über Gegenwart und Zukunft anzustoßen (Buck 141). Somit kommen schon in Müllers frühen lyrischen Texten trotz einer positiven Grundhaltung zum Sozialismus gesellschaftliche Probleme 16 der DDR zur Sprache, denn da die Wirklichkeit laut Müller nicht ohne Konflikte zu denken ist, dürfen diese auch in der Poesie nicht fehlen. Die Erschaffung einer poetischen „Scheinwelt ohne Unstimmigkeiten und Konflikte“ ist daher zu vermeiden, schreibt Müller 1953 in Die Dichtung muss sich stellen (Schriften 59). In Müllers späteren Texten wird die Darstellung „unversöhnter Widersprüche“ gar zu einem literarischen Werkzeug, das er wie Brecht den Verfremdungseffekt, einsetzt um den kritischen Denkprozess des Rezipienten anzustoßen (Mc Gowan 68). Die Nutzung von mythischen Stoffen eröffnet Müller die Möglichkeit Narrative in komprimierter Form aufscheinen zu lassen. Durch die hohe vom Kollektiv geteilte Bedeutungsaufladung mythischer Bilder ist ein verdichtetes Erzählen möglich, welches den Rezipienten der Lyrik gleichzeitig stark in den lyrischen Prozess einbindet (Saporiti 151). Müllers Haltung gegenüber dem Verhältnis von Kunst und Politik scheint in seinen Äußerungen zunächst ambivalent. Fest steht, dass er Kunst und Literatur eine herausragende Stellung in der Gesellschaft zuweist: „Ein Leben ohne Kultur ist sinnlos, ist wahrscheinlich gar nicht menschlich“ (Jenseits der Nation 100). Es bleibt allerdings unklar, ob Müller der Meinung ist, dass Künstler überhaupt politisch Einfluss nehmen können. In den 1950er Jahren, die gleichzeitig die Anfangsjahre der DDR sind, schreibt Müller unter anderem Gebrauchslyrik (Ebrecht 27), womit er sich scheinbar gegen die Idee des „autonomen“ oder „absoluten“ Gedichts wendet, das nach Gottfried Benn eine in sich geschlossene Wirklichkeit erzeugt. Doch nicht alle von Müllers Gedichten aus dieser Schaffensperiode lassen sich als Gebrauchslyrik identifizieren. Kunst muss laut Müller nicht direkt politisch oder für andere Lebensbereiche instrumentalisierbar sein, sondern ist die Triebfeder von Veränderung. Müller erkennt in der Kunst eine destruktive Kraft, die er jedoch für notwendig hält: „Der Erkenntnistrieb ist ein Todestrieb, und Kunst ist der Versuch den Erkenntnistrieb zu betäuben, gegen ihn Widerstände 17 aufzubauen. (…) Mit Realität spielen ist eine subversive Haltung, zersetzt die Realität (…)“(Jenseits der Nation 71/72). Ein Gedicht kann demnach zwar seine eigene autonome Wirklichkeit konstruieren, steht jedoch spielerisch mit der externen Realität in Verbindung. Buck weist darauf hin, dass die destruktiven und negativen Tendenzen in Müllers poetischem Schreiben eine „Dialektisierung der Wirklichkeit“ darstellen und somit ein positives, produktives Potential bergen (Buck 150). In diesem Sinne nehmen auch einige von Müllers frühen lyrischen Werken eine Pragmatisierung des absoluten Gedichtes vor. Die Revidierung des Orpheus-Mythos in „Orpheus gepflügt“ Orpheus gepflügt ist ein Gedicht, an dem sich Heiner Müllers Haltung zur Lyrik und zum Mythos gut nachvollziehen lässt. Da er das Thema Jahre später in einer zweiten Version des Gedichts mit dem gleichen Titel wiederaufgreift, ist es diesbezüglich besonders aufschlussreich. In dem Prosagedicht Orpheus gepflügt nimmt Heiner Müller durch die Einbindung von gesellschaftlichen Tabus wie Pädophilie und sexuelle Enthaltung nach der Geburt eine Neuinterpretation des Orpheus-Mythos vor (Warten auf der Gegenschräge 43). „Orpheus, der Sänger“, welcher den Dichter schlechthin verkörpert, wird zum rücksichtslosen, egoistischen Mann, der ohne zu zögern Tabus bricht und durch sein Verhalten den Tod bringt. Am Ende des Gedichts kommt er selber durch die Pflüge der Bauern zu Tode (ibid.). Der Titel „Orpheus gepflügt“ ist sachlich und erinnert an eine Zeitungsüberschrift (ibid.). Die Auslassung des „wurde“ kennzeichnet die Überschrift als defizitär und führt dazu, dass in dieser Kurzfassung lediglich zwei Worte, und zwar „Orpheus“ und „gepflügt“, in Beziehung zueinander gesetzt sind. Obwohl die Formulierung wie eine Zeitungsschlagzeile wirkt, die zum Beispiel über ein Spielergebnis beim Fußball, einen Unfall, einen Prozess oder einen Mordfall Auskunft geben könnte, ist der Informationsgehalt zunächst niedrig, da der Sinnzusammenhang 18 rätselhaft ist. Es wird die Autorität und Vertrauenswürdigkeit einer objektiven Beschreibung oder Berichterstattung suggeriert. Die Worte „Orpheus“ und „gepflügt“ bilden jedoch eine unkonventionelle Einheit, die erst entschlüsselt werden muss. Die mythische Figur des Orpheus wird durch den Zusammenhang mit „gepflügt“ banalisiert und als zwar zu Beachtende, aber dennoch dem Bereich des Alltäglichen entstammende, eingeführt. Das Gedicht besteht aus sechs Sätzen. Im ersten kurzen Satz wird Orpheus als „der Sänger“ und „ein Mann, der nicht warten wollte“ vorgestellt, wodurch er durch drei wichtige Aspekte charakterisiert wird: seine Kunst, sein Geschlecht und seine Ungeduld. Der Satz wirkt wie die Einleitung zu einer längeren Erzählung. Dieser Erzähleindruck wird durch die Konjunktion „nachdem“, die den zweiten Satz einleitet, vertieft und durch viele präpositionale Einschübe ergänzt. Das auffälligste Merkmal des Satzes ist die koordinierende Konjunktion „oder“, durch welche die mythische Ebene mit der banalen Ebene des Alltäglichen in ein Verhältnis gesetzt wird. Die konsekutive Konjunktion „so daß“ beschreibt das Resultat der Handlung und der charakterlichen Schwäche des Orpheus. Die Konsequenzen der Handlung werden geschildert. Im ersten Abschnitt des Gedichts häufen sich Präpositionen und Konjunktionen, die das Verständnis prägen und ordnend und erklärend wirken. Zum einen unterstützen sie eine nähere Beschreibung der eingeführten Person und ihrer Handlungen, zum anderen werden logische Verknüpfungen erzeugt und Sachverhalte zueinander in Beziehung gesetzt. Neben der Allegorie des Orpheus steht die Metapher des Pfluges am Ende des Gedichts im Vordergrund (Warten auf der Gegenschräge 43). Der Mythos selbst funktioniert als Bild. „Frau“, „Weiber“ und „Bauern“ können entweder konkret oder als Chiffre verstanden werden. Die „Frau“ wird durch ihre Position im Text, durch das Mitschwingen der mythischen 19 Bedeutungsebene und durch ihr Attributfeld als Objekt männlicher Lust, als Verkörperung des Verlusts, des Todes und des chthonischen Prinzips präsentiert. Die „Frau“ von Orpheus, auf mythischer Ebene Eurydike, wirft die Thematik der zyklischen Wiederkehr im Sinne Persephones auf. In Müllers Version wird sie durch die Attribute „Kindbett“ und „neu im Fleisch“ mit der Möglichkeit der Reproduktion und somit Schöpfung, dem produktiven Akt schlechthin, in Verbindung gebracht. Dies steht in Übereinstimmung mit späteren Aussagen Müllers, in denen er die Reproduktionskraft der Frau hervorhebt: „Der Mann ist der Passagier der Frau. Oder: Die Frau ist die Zukunft des Mannes“ (Schriften 452). Darüber hinaus wird Orpheus in Bezug auf die „Frau“ als rücksichtsloser Lüstling charakterisiert, da er seinen Trieben ohne Rücksicht auf ihre gesundheitlichen Bedürfnisse während des „Kindbetts“ folgt. Dieses sich Hingeben an seine zerstörerische Triebkraft führt in dieser Phase nach der Geburt zum Tode der Frau. Orpheus bricht hier ein Tabu, welches aus guten Gründen aufgestellt wurde. Die Frau als für die Produktivität des Orpheus notwendiger Teil kann auch als Chiffre für „das Andere“ gesehen werden. Sie verkörpert dann jedoch das selbstständige Andere, das vom Dichter unabhängig existiert. Die „Liebe zu den Weibern“ kann in Hinsicht auf den perversen Orpheus des Gedichts als sexuelle Obsession verstanden werden. Das mitschwingende positive Gegenbild der Formulierung ist dann als Hingabe an das selbstständig Andere zu betrachten, aus der die Kunst oder Dichtung entstehen kann. Durch die Missachtung der die Frau schützenden Konvention verbaut sich Orpheus diesen Weg von künstlerischer Schöpfung. Der Tabubruch des Kindbetts wird durch die Einführung des Motivs der „Knabenliebe“ komplementiert. „Kindbett“ und „Knabenliebe“ sind auf semantischer Ebene als Fehltritte des Orpheus parallelisiert. Beide Phänomene sind mit gesellschaftlichen Tabus belegt und 20 entstammen dem Bereich der Sexualität7. In Müllers Text spiegeln sie den mythologischen Fehltritt Orpheus‘, den verbotenen Blick auf Eurydike zu werfen. Dieser Deutungsstrang von Orpheus‘ Hinwendung zur Homoerotik findet sich bereits in der Version von Ovid (Emmerich (B) 342). In Orpheus gepflügt heißt es, Orpheus „erfand“ die Knabenliebe, womit Knabenliebe im Gegensatz zur „Liebe zu den Weibern“ als scheinbar kreativer Akt geschildert wird. Hier findet sich eine asymmetrische chiastische Figur. Diese Stilfigur bildet den Bruch ab, der durch die Einführung des animalisch perversen Motivs des Orpheus im Gegensatz zu dem mythisch erhabenen der Errettung Eurydikes aus der Unterwelt erzeugt wird. Weitere spannungsgeladene Kreuzfiguren stellen auch der Zusammenhang zwischen „durch Blick aus der Unterwelt“ mit „aus dem Tod durch seinen Gesang“ und „für die kein Platz gewesen war in seinem Lied“ mit „So war sein Platz unter den Pflügen“ dar. Durch die Kreuzung der Aussagen wird die Verschlungenheit der dialektischen Konzeption widergespiegelt. Die Formulierung „Die Verschmähten“ ist ambivalent, denn sie kann sich auf die durch „Knabenliebe“ verschmähten „Weiber“ oder auf die nicht-besungenen „Bauern“ beziehen (Warten auf der Gegenschräge 43). Beiden gemeinsam ist, dass Orpheus ihnen nicht genügend Aufmerksamkeit schenkt. Folgt man einer sozialistischen Weltanschauung, so repräsentieren sie die „Benachteiligten“ der Geschichte. Orpheus würde in diesem Zusammenhang als Inkarnation einer ungerechten männlich-patriarchalischen Gesellschaftsordnung in Erscheinung treten. Im Sinne Adornos hätte er dann eines mit Odysseus gemeinsam: Er wäre der rücksichtslose, auf seinen eigenen Vorteil bedacht Kolonisator, der durch rationale List versucht die logischen Regeln der mythischen Welt zu beugen(Adorno/Horkheimer 61). 7 Eine Verbindung zwischen gesellschaftlicher Konvention, der Einschränkung von sexuellen Trieben, Vatermord und Opfer beschreibt bereits Sigmund Freud in seinem Werk „Totem und Tabu“ (Freud 156; 165). 21 Vergleich von Orpheus und Odysseus im Sinne der Dialektik der Aufklärung Die Wiedererzählung des Mythos in Orpheus gepflügt folgt dem Regelprinzip des Mythos als dialektisch konzipiert im Sinne der Thesen aus der Dialektik der Aufklärung von Adorno und Horkheimer. Eine der Hauptthesen dieses Werkes besagt, dass Mythen die ersten Formen der rationalen Welterklärung sind. Sie mystifizieren, das heißt entrücken, und erklären gleichzeitig (24). Anders als Odysseus in der Odyssee versucht Orpheus in der Version von Ovid nicht die Götter oder Naturgewalten und somit den mythischen Verlauf auszutricksen, sondern erweicht sie, bzw. bezaubert sie mit der Schönheit seiner Kunst (Adorno/Horkheimer 66/67). Ebenso wie Odysseus stellt Orpheus in der mythischen Erzählung ein handelndes Subjekt dar. Er kann als Äquivalent des Odysseus in der Dialektik der Aufklärung gelesen werden. Mitnichten verkörpert er jedoch den gleichen Menschentyp wie Odysseus, der bei Adorno/Horkheimer den dialektischen Pol der rational aufklärerischen Zivilisationskraft in sich trägt. Im Gegensatz zu Odysseus in der Lesart Adorno/Horkheimers repräsentiert Orpheus das Prinzip des Mythos und keinesfalls das der Rationalität (vgl. Adorno/Horkheimer 67). Orpheus steht vielmehr für das subjektive Irrationale, das versucht Regeln zu umgehen, daran jedoch scheitert. Auch Orpheus will die „Naturgesetze“, die für ihn im Mythos gelten, umgehen, indem er sich dem Prinzip des Todes widersetzt. Dabei nutzt er jedoch nicht wie Odysseus eine „Lücke“ in mythischen Gesetzmäßigkeiten, sondern bewegt sich innerhalb des Vertrags (Adorno/Horkheimer 67). Orpheus versucht nicht wie Odysseus die Götter mit ihren eigenen Mitteln den Prinzipien der Rationalität folgend zu schlagen. Die mythische Gabe der Zauberkraft seines Gesanges, die Orpheus besitzt, nutzt er innerhalb der Logik des Mythos. Dadurch eröffnet sich ihm die Möglichkeit, das natürliche System von Leben und Tod zu umgehen. Er setzt der 22 Logik des Mythos seine mythischen Fähigkeiten entgegen und umgeht sie durch eine mythische Ergänzung. Die Figur des Orpheus in Heiner Müllers Orpheus gepflügt verkörpert wie der Orpheus des Ovid das Irrationale. Er strebt danach, das ihm gegebene Privileg zu seinem persönlichen Vorteil auszunutzen. Dieses Unterfangen missglückt jedoch, da er sich nicht an die vorher aufgestellten Regeln hält. Durch die Parallelisierung mit den sexuellen Tabubrüchen ist ersichtlich, dass Orpheus seine Triebe nicht unter das zivilisatorische Regelwerk sublimiert. Er ist fehlbarer Mensch – in der schärfsten Lesart gar perverses Individuum – und kann seinen zerstörerischen Gelüsten nicht widerstehen. Ein Kernsatz des lyrischen Textes ist der Satz: „Aber das Lied schont den Sänger“ (Warten auf der Gegenschräge 43). Durch die Verwendung des Präsens hebt er sich von der übrigen Erzählstruktur ab und ist als Kommentar des Erzählers identifizierbar, der hier eine Aussage von allgemeiner Gültigkeit widerzugeben scheint. Dass das Lied den Sänger schont, wird quasi als natürliches Gesetz präsentiert. Dabei ist dieses Gesetz selbstverständlich keines, das durch die modernen Naturwissenschaften bestätigt werden kann. Diese Art von Gesetzmäßigkeit erlangt ihren Sinn im Rahmen der Logik des Mythos, in der Dinge geheimnisvoll und unerklärt bleiben dürfen. Orpheus‘ Versuch, sich durch das mythische Prinzip im Rahmen der mythischen Gesetze zu widersetzen, schlägt jedoch anders als die List des Odysseus fehl. Beide sind darum bemüht, die mythische Tauschlogik zu untergraben und sich dem geforderten Opfer zu verweigern (Adorno/Horkheimer 69). Im Falle des Orpheus findet dies den Ausdruck in Orpheus’ Versuch, Eurydike – das Opfer – der anderen Seite und zwar dem Reich des Todes zu entziehen. In der sozialistischen Deutung wird Orpheus‘ individueller Wunsch, der durch seine individuelle Begabung in erreichbare Nähe rückt, durch sein individuelles Versagen das Kollektiv adäquat zu besingen, vom Kollektiv vernichtet. 23 Durch die spezifische Konstruktion des Gedichts im Spannungsfeld zwischen Mythos und Rationalität einer gerechten sozialistischen Gesellschaft wird sichtbar, dass Heiner Müller einerseits ebenso wie Brecht und Adorno vor einer Dominanz des absoluten Rationalismus warnt und andererseits konkrete Ausdrucksformen fordert, die zur kritischen Reflexion zwingen. Wie Müller 1953 in seiner Schrift Die Dichtung muss sich stellen fordert, sollten Künstler nicht im „Abstrakten steckenbleiben“ und in ihrer poetischen Welt nicht „das ‚Positive‘ in chemisch reiner Form“ abzubilden versuchen (Schriften 59). Einmal mehr zeigt sich hier Müllers Opposition zum absoluten Gedicht als hermetisch konzipiert. Orpheus gepflügt als Reflexion über die Dichtkunst Wie funktioniert nun also die Neuinterpretation des Mythos in Orpheus gepflügt und welche Konsequenzen für die Interpretation des Gedichts ergeben sich daraus? Durch die spezifische Auswahl des orphischen Mythenstoffes ist offensichtlich, dass das Gedicht über die Dichtkunst und den schöpferischen Prozess des Dichters Auskunft gibt (Warten auf der Gegenschräge 43). Orpheus gepflügt nutzt die Spannung zwischen aufklärerischen Tendenzen und „Barbarischem“, wie sie auch in Adorno/Horkheimers Lesart der Odyssee zu finden ist, um auf „Fragen der Lyrik“ hinzuweisen: Welche Legitimation hat Poesie? Welche Legitimation hat ein Autor? An wen sollte sich Poesie richten? Heiner Müller parallelisiert das Grundkonzept des Befreiungsversuchs von Eurydike aus der Unterwelt mit zeitlosen Problematiken, wie dem Kindstod oder der sexuellen Beziehung zwischen Mann und Frau oder Mann und Knabe. Er zitiert das Mythem nicht einfach, sondern bringt es durch seine „oder-Logik“ in abgewandelter, erweiterter Form ein. Dadurch wird der mythische Stoff, die Handlung des mythischen Narrativs, als nicht einmalig, sondern immer wiederkehrend herausgestellt. Orpheus ist nicht mehr der begnadete Sänger, sondern ein Mann 24 wie jeder andere. Dennoch verkörpert Orpheus das irrationale Prinzip insofern, als er triebgesteuert agiert. Der sozialistischen Forderung nach am Gemeinschaftswohl orientiertem Handeln zuwiderlaufend kommt hinzu, dass er auf seinen eigenen Vorteil bedacht handelt. Rationales Handeln würde die sozialistische Gemeinschaft im Blick behalten. Bedeutungsweisend für die Interpretation des Gedichtes ist am Ende ein spezifischer Aspekt aus Ovids Variante, und zwar die Frage danach, wer besungen wurde: “Was er besungen hatte konnte seine Haut nicht ritzen“ (Warten auf der Gegenschräge 43). Diejenigen, die Orpheus also in seiner Lyrik beachtet hat, wenden sich nicht gegen ihn. Gewalttätig gegenüber dem Künstler werden die Gruppen oder Elemente, die nicht „zur Sprache gebracht“ und somit missachtet wurden. Das sprachlich nicht Artikulierte muss, so die implizierte Forderung, ausgedrückt werden. Wie in dem Anfangszitat dieses Kapitels („die Sprachlosen sprechen“) ist hier Müllers Forderung an Kunst zu erkennen. Der Bezug des künstlerischen Schaffens zu den „Sprachlosen“, den Benachteiligten der Geschichte, die nicht beachtet wurden, ist seiner Ansicht nach die Legitimation für Kunst. Müller versucht also seiner eigenen Forderung in Orpheus gepflügt nachzukommen. Zu diesem Zwecke nimmt er eine Pragmatisierung der Lyrik vor, die jedoch nicht so weit geht, dem Rezipienten klare Handlungsanweisungen zu geben. Durch seine spezifische Rezeption des Mythos hinterfragt Heiner Müller nicht die Kraft der mythisierenden Poesie, sondern ihr Ziel. Mit der Formulierung „Aber das Lied schont den Sänger“ weist der Text darauf hin, dass das poetische Objekt den Poeten vor den Angriffen von außen schützt. Jedoch ist Orpheus nur vor dem sicher, was er besungen hat, das heißt, die äußeren Umstände, die Gegenstand der Poesie wurden, können den Dichter nicht verletzten. Wohl aber können dies die Gegenstände, die nicht besungen wurden, weil Orpheus sie vergessen hat oder für nicht wichtig genug hielt. Die Utopie des Dichters, das die Überwindung des Todes 25 möglich ist, kann nicht erreicht werden, weil Orpheus den menschlichen Fehltritten der Ignoranz, Vergesslichkeit und des Egoismus anheimfällt. Der Autor dieser Art von Gedichten muss sterben und wird Opfer seiner selbst. Müller zeigt somit die Grenzen des Credo „l’art pour l’art“ auf (Saporiti 150). Das Gedicht lehnt eine Poesie ab, die sich dem Kontakt mit der Realität außerhalb der Lyrik verweigert (ibid.). Müller nennt diese von der Lebenswelt abgekoppelte lyrische Realität eine „Scheinwelt“, die versucht Wahrheit vorzugaukeln, wo keine Wahrheit zu finden ist (Schriften 59). Corinna Mieth ist der Meinung, dass Müller zwischen engagierter Literatur und absoluter Poesie pendelt (Mieth (A)8). Nach Gottfried Benn ist ein „absolutes“ oder „autonomes“ Gedichteines, das nicht aus einer bestimmten sentimentalen Stimmung heraus verfasst wurde und an niemanden konkret gerichtet ist (505/506, 511). Das Gedicht schreibt sich vielmehr selbst und ist in dem Sinne autonom, als es keine direkte Verbindung zwischen der „Realität außerhalb“ und „Realität in der Poesie“ herstellt (517). Die Interaktion zwischen Autor und Gedicht kann Benn nur durch das Adjektiv „mystisch“ beschreiben (521). Das absolute Gedicht nach Benn ist „das Gedicht ohne Glauben, das Gedicht ohne Hoffnung, das Gedicht, an niemanden gerichtet, das Gedicht aus Worten, die Sie faszinierend montieren“ (529). Diese fast hermetische Konstruktion von lyrischer Wahrheit lehnt Heiner Müller ab (Schriften 59). Orpheus gepflügt als politische Stellungnahme Orpheus gepflügt lässt zusätzlich zu den vorgebrachten Reflexionen über Poesie die Interpretation als politische Stellungnahme zu (Emmerich (A) 59). Durch die Schlagworte „Waffen“ und „Pflug“ wird der sozialistische Kampfruf „Schwerter zu Pflugscharen“ imitiert. Im 8 Webtext ohne Seitenangaben. 26 Gedicht wird allerdings der Pflug zur Waffe, was die Destruktion des die Lyrik repräsentierenden Orpheus zur Folge hat (Warten auf der Gegenschräge 43). Der Satz „So war sein Platz unter den Pflügen“ ist mehrdeutig lesbar. Einerseits legt er vor allem in Kombination mit dem Titel des Gedichts die Bedeutung „Orpheus wird gepflügt“ nahe. Ein solches Verständnis würde in Konsequenz bedeuten, dass die Dichtkunst der Produktion der Gemeinschaft dient oder dienen muss. Die Dichtkunst wird dann zum Nährboden der sozialistischen Gemeinschaft. Orpheus ist egoistisch und möchte sein dichterisches Talent nicht der Gemeinschaft zur Verfügung stellen (Saporiti 151). Er verkörpert eine Dichtkunst, die sich der aktuellen Realität entziehen möchte. Diese Art von Lyrik verschlingt jedoch den Autor und stellt sein gesamtes Dasein in Frage. Das Gedicht wird zwar dadurch als extrem wirkmächtig präsentiert, weil es über die Existenz des Lyrikers entscheidet, es berechtigt jedoch nicht zu seiner Existenz. Für eine Dichtung um der Dichtung willen und eine Dichtung, die egoistische Motive verfolgt, ist in einer an Gemeinschaft orientierten Gesellschaft kein Platz. Die Formulierung „So war sein Platz unter den Pflügen“ kann allerdings auch verstanden werden im Sinne von „Orpheus wird zum Pflug“. In diesem Falle würde Orpheus seinen Platz in der Reihe der Pflüge einnehmen und es ist fraglich, ob dieser Orpheus noch etwas Orphisches an sich hat. Auch nach dieser Deutungsart muss der Dichter in der klassenlosen Gesellschaft seinen Beitrag zur Produktivität und zum Wohl der Gemeinschaft leisten, allerdings wird diesem Ziel seine künstlerische Tätigkeit geopfert. Emmerich beschreibt diesen Sachverhalt mit der folgenden Formulierung: Der marxistische Schriftsteller Heiner Müller begründet so im uralten Orpheus- Mythos eine forciert neue Funktionsbestimmung von sozialistischer Autorschaft in der DDR der 50er Jahre. Die poetische Produktion legitimiert sich aktuell 27 durch Bündnis mit der Arbeiterklasse, konkret: durch ihre Auseinandersetzung mit der materiellen Produktion und ihrem Träger, dem Proletariat. (Emmerich (A) 60) Die Ignorierten, die Orpheus nicht besungen hat, können ihn verletzen. Die Tätigkeit des Pflügens kann in diesem Sinne auch als die Rache der „Verschmähten“ angesehen werden. Aus einer anderen Perspektive betrachtet vollzieht das Kollektiv der Unterdrückten und Benachteiligen an Orpheus ein Opfer, das eine Phase der Veränderung einleitet. Die Verschmähten sind in dieser Lesart die Frauen und die Bauern, die nach Müllers sozialistischem Verständnis die Benachteiligten der Geschichte sind. Wenn also der Künstler in seiner Kunst nicht auch die Produzierenden in der Gesellschaft anspricht, so hat seine Kunst keine Daseinsberechtigung. Dahinter stünde die Forderung an die Kunst nicht elitär, sondern egalitär zu sein. Dies würde gut zum damaligen Anspruch Müllers an die literarische Produktion passen, der im Geiste Brechts besagte, dass Kunst sich auch an die Massen richten soll und dass es keinen Unterschied zwischen Künstlern und Nicht-Künstlern geben soll. Aus der oben vorgenommenen Analyse ist klar geworden wie Müller den Orpheus- Mythos als Struktur für sein Gedicht verwendet und mit den verschiedenen Nuancen spielt, um auf Missstände seines eigenen Umfeldes hinzuweisen. Das Gedicht ist durchtränkt vom mythischen Stoff, der für die Bedeutungskreation im Gedicht unabdingbar ist. Müller verwendet Mythen, weil sie Assoziationsketten beim Leser oder Rezipienten auslösen. Ob Müller, so wie Saporiti schreibt, diesen Kunstgriff des Diskussionsanstoßes durch Verwertung des Mythos nur vollzieht, um damit die Autorität seiner eigenen Meinung zu betonen, ist zweifelhaft (Saporiti 151). Wie oben gezeigt, ist die Interpretation des Gedichts vor allem durch den unklaren Verbleib des Orpheus nicht zu vereindeutigen. Eine autoritative Meinungsweitergabe entspricht 28 nicht Müllers Ideal einer „Pragmatisierung“ der Lyrik. Die verschiedenen Lesarten des Gedichts stützen eher die These von Mieth, auch wenn sie diese in Bezug auf Müllers spätere Texte formuliert hat: „Die Kunst entfaltet bei Heiner Müller wie bei Adorno eine indirekt kritische Wirkung, indem sie die Infragestellung des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs erlaubt” (ibid. (A)). Zwar prägt Müller in der frühen Phase seines Schaffens noch ein teleologisches Geschichtsverständnis, es ist jedoch bereits das Zurücknehmen der klaren Deutungsmöglichkeit zu erkennen, welches sich vor allem in Müllers späteren Stücken zeigt (Mieth (A)). Die Reprise des Orpheus-Mythos als Klage: „Dunkel genOssen ist Der Weltraum“ Als die thrakischen Weiber den Schönsänger Orpheus zerstückten Wars mit Pflügen. Denn das Lied schont den Sänger und alles Hatte besungen der Gewächs und Getier und die Glieder Lösende Liebe Den blutausschüttenden Krieg Und Tod und Traum und im leeren Himmel das Schweigen der Götter Er Orpheus DUNKEL GENOSSEN IST DER WELTRAUM SEHR DUNKEL Aber den Grund nicht Arbeit schweiß treibend und Werkzeug So starb er An vergessenem Gesang. (Heiner Müller, Orpheus gepflügt9 (2)) 9 Das Gedicht erschien erst im Nachlass. Es ist wahrscheinlich in den 1970er oder 1980er Jahren verfasst. 29 Heiner Müller greift die Thematik von Orpheus‘ fehlgeschlagenem Befreiungsversuch in den 1960 er 10 Jahren noch einmal in einem Gedicht mit dem gleichen Titel auf. Dieses Gedicht erscheint jedoch erst posthum im Nachlass Heiner Müllers. Aus dem Vergleich der beiden Variationen des Themas wird ersichtlich, dass aus Orpheus gepflügt (1) Optimismus spricht. In Orpheus gepflügt (1) wird die Frage nach einer sinnvollen oder wirkmächtigen Art von Poesie angestoßen. Es wird nach dem “wie” gefragt. Stilistisch setzt sich Orpheus gepflügt (2) durch die Auslassung von Satzzeichen von der ersten Version ab (Warten auf der Gegenschräge 335). Der Fokus in der Reprise des Orpheus-Gedichts liegt weniger auf dem Pflügen als in Orpheus gepflügt (1). Obwohl das zweite Gedicht das gleiche Grundthema wie das erste anspricht, und zwar den Tod des Orpheus, hat es eine ganz andere Grundstimmung als die Version aus dem Jahre 1949. In der Wortwahl schwingen Resignation und Melancholie mit (Warten auf der Gegenschräge 335). Durch die Reihung verschiedener nominaler Ausdrücke mit „und“ entsteht eine simple und bewusst unkreative Struktur, die eine Verarmung der Sprache abbilden kann. Kausale Verbindungen zwischen den einzelnen gereihten Elementen werden nicht hergestellt. Diese Redundanz führt zum ernüchternden Eindruck des Gedichts. Der Aspekt der Homoerotik, ebenso wie der der Fehltritte des heterosexuellen Drängens, ist komplett ausgelassen. Der lyrische Text lenkt den Blick vollständig auf die Kernthematik der Ignoranz oder des „vergessenen Gesangs“. Es geht nicht mehr um die, die in Orpheus Gesang vergessen wurden, sondern um den „vergessenen Gesang“ selbst (ibid.). Es klingt eine Klage über den Gesang, also die Lyrik, als eine in Vergessenheit geratene Kunstform an. Einen Bruch im Gedicht verursacht das plakativ eingeworfene, durch Großschreibung gekennzeichnete Zitat, welches keinem Sprecher zugeordnet wird: „Dunkel Genossen ist der 10 Die genaue Datierung ist unklar. 30 Weltraum sehr dunkel“. Es sind die damals jedoch medial sehr präsenten Worte des berühmten Kosmonauten Juri Gagarin, die er 1961 vom Weltall aus an die Erde funkte. Für Heiner Müller muss dieser Meilenstein in der Geschichte der Menschheit besonders prägend gewesen sein, da die Unantastbarkeit des Weltraums, insbesondere des Mondes, für ihn spezifisch mit Bedeutung aufgeladen war. Das Eindringen der Menschen in das Weltall ist ein Bild für den unstillbaren Drang des Menschen, in unerschlossene Gebiete zu expandieren und diese zu kolonisieren und zu zivilisieren. Dies geht aus einem Interview mit Alexander Kluge hervor, indem Müller sagt, dass die Menschen den Mond nicht hätten betreten sollen (Theweleit 6). Der Mond erscheint bei Heiner Müller als Symbol für Ehrfurcht vor dem Ungewissen, Unentdeckten, rational noch nicht Erfassten und kann somit als Chiffre für den Mythos als Instanz von rational nicht erschließbarer Wahrheit angesehen werden. Müllers Aussage, dass man den Mond „nicht betreten solle", weil er einen Sicherheitsmoment im Schlaf darstellt, könnte in der Form gedeutet werden, dass der Mythos das mythische Andere bleiben und nicht als Illusion entlarvt werden soll (Theweleit 6). Juri Gagarins Aussage steht im Gedicht exponiert wie ein eingeworfener Orakelspruch. Vielleicht wird Gagarin hier Müllers Resignation hinsichtlich der Rolle der Schriftsteller oder der gesamten Entwicklung in der DDR in den Mund gelegt. Dann würde das „Dunkel“ sich auf eine negative Situation in Gegenwart oder Zukunft beziehen. Vielleicht kommentiert das Gedicht jedoch den Gebrauchswert von Poesie im Allgemeinen. Das Gedicht kann nicht mehr überzeugt für den pragmatischen Sinn von Poesie argumentieren und dreht die in Orpheus gepflügt (1) aufgestellte These, dass Schriftsteller einen wertvollen Beitrag zum Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft leisten können, förmlich um. Im Gegensatz zur ersten Version werden große Zweifel an Wirkung und Sinn von literarischer Schöpfung sichtbar. Orpheus, der Sänger, hat nicht nur seinen Gesang, sondern auch seine Daseinsberechtigung verloren. Wie an einer 31 Krankheit stirbt er „an vergessenem Gesang“. Der Dichter ist zum Werkzeug geworden und hat darüber seine Dichtkunst vergessen. Diese Erkrankung an verlorener Dichtkunst ist für den Dichter tödlich. In seiner Rede Deutschland ortlos weist Müller explizit auf diese Gefahr hin, wenn er Kleists Selbstmord erwähnt, den Müller darauf zurückführt, dass Kleist „an der Welt erkrankte“ (385). Allerdings erkrankt Kleist laut Müller nicht an „verlorener Dichtkunst“, sondern „an der Welt“. Müller schreibt: „(…) aber wer könnte ungestört leben, die täglichen Katastrophen im Blick, außer ein Idiot oder ein Heiliger“ (ibid. 384). Die zwanghafte Instrumentalisierung des Künstlers führt zu seinem Verstummen. Eine Verbindung mit dem „mystischen“ Urgrund der Sprache, wie ihn Benn nahe legt, ist nicht mehr möglich. Auch die Worte im Gedicht „Im leeren Himmel das Schweigen der Götter“ stützen diesen Gedanken (Warten auf der Gegenschräge 335). Hier wird durch eine doppelte Negativ-Formulierung der Eindruck verstärkt, dass es keine Sinn gebende Instanz außerhalb des menschlichen Alltags gibt. Zwischen Mythos und sozialistischer Realität hat sich ein Graben aufgetan, der in der Momentaufnahme des Orpheus gepflügt (2) unüberbrückbar scheint. Die Menschen haben zunächst den Weltraum und etwas später 1969 auch den Mond betreten und somit den Mythos entweiht. Das Prinzip der Rationalität hat in diesem Moment gesiegt und führt zum Verlust der Utopie. 32 Chapter III Die Funktion des Mythos in Heiner Müllers Lehrstück „Mauser“ Immer noch unter dem starken Einfluss der Idee einer engagierten Kunst stehend experimentiert Heiner Müller bis zum Beginn der 1970er Jahre mit Brechts Konzept des Lehrstücks. Er erweitert die Brecht’schen Anforderungen an Theater jedoch um eine Dimension, die dialektische Verschachtelung als pädagogisches Element einsetzt. Wie diese spezifische Variante des Lehrstücks gestaltet ist, wird im Folgenden am Beispiel Mauser nachvollzogen. Die Verwendung mythischer Elemente ist in Mauser kein Hauptmerkmal des Textes, sondern tritt in Müllers Lehrstück im Vergleich mit anderen sprachlichen Techniken wie zum Beispiel Verfremdungseffekten deutlich in den Hintergrund. Mythische Elemente werden eingeführt, um die starre Struktur des rationalen Systems zu unterminieren. Zusätzlich wird durch die erzeugte Ambivalenz die Identifizierung einer eindeutigen Lehrmeinung vermieden. Die Schein-Rationalität des Systems an sich wird durch die mythischen Assoziationen als irrational und mystifizierend entlarvt. Trotz der Erweiterung der Lehrstückstheorie um mehr Ambivalenz und Sinnlichkeit wendet sich Müller nach dem Stück Mauser von diesem Vorgehen ab. Müller bewertet auch das erweiterte Konzept des Lehrstücks als unzureichend, da die hochkomplexe Verschachtelung verschiedener Ebenen nicht den gewünschten pädagogischen Effekt bei den Teilnehmern auslöst. Die Technik, dem Rezipienten oder Teilnehmer des Stücks den eindeutigen utopischen Bezug zu verweigern, verfehlt ihre Wirkung. Als Resultat bezieht sich Heiner Müller wieder verstärkt auf mythische Bilder und andere kollektive Referenzen. 33 Mythos als Ambivalenzfaktor im teleologisch ausgerichteten Lehrstück „(…) ich denke, daß wir uns vom LEHRSTÜCK bis zum nächsten Erdbeben verabschieden müssen. Die christliche Endzeit der MASSNAHME ist abgelaufen (…)“ (Mauser 85) Heiner Müller schreibt drei Stücke, die nach eigenen Angaben in der Tradition der Brecht’schen Lehrstücke stehen. In einem dieser Stücke, welches den Titel Mauser trägt, nimmt Müller auf der inhaltlichen und formalen Ebene sehr stark auf Brechts Maßnahme Bezug. Müller greift Grundgedanken von Brechts Konzept bezüglich der Funktionsweise des Lehrstücks auf, wandelt das Konzept jedoch ab (Eke 128). Einige Literaturwissenschaftler sehen ihn als würdigen Nachfolger Brechts im Hinblick auf die Weiterentwicklung der Lehrstückstheorie (Case 94; Fehervary 84). Einige Jahre nach dem Verfassen von Mauser verwirft Heiner Müller jedoch die Idee des Lehrstücks und wendete sich von der hauptsächlich über Abstraktion funktionierenden Lehrmethode ab (Eke 134). Im Folgenden wird aufgezeigt, warum Heiner Müller die Idee des Lehrstücks verbannt, welche Art von Stück er anstatt dessen favorisiert und wie sich dieses von seiner Vorstellung von „Lehrstück“ unterscheidet (Schivelbusch 104). Durch das Untersuchen dieser Frage soll ein tieferes Verständnis der Wirkmechanismen von Heiner Müllers Texten ermöglicht werden. Im Lehrstück sollen durch Mitlesen oder Mitspielen die Teilnehmer die Situationen nachvollziehen können und gleichzeitig soll die Verfremdung dazu führen, dass eine gewisse Distanz gewahrt wird. Die Wirkung entfaltet sich also auf einer rationalen Ebene. Die in dieser Arbeit zu überprüfende Hypothese geht davon aus, dass Heiner Müller sich einer Form des Dramas zuwendet, in der vermehrt die unterbewusste Ebene des Lesers oder Zuschauers an der Perzeption und Rezeption des Stücks beteiligt ist (Mae-Ha 156). Müller verwirft die Methode 34 des Lehrstücks und appelliert in nachfolgenden Stücken wieder stärker an die unkontrollierte Seite der Wahrnehmung, womit er ein `psychologisches´ Mitschwingen erreichen will (Filho 33).Um diese Argumentation nachvollziehen zu können, sollen zunächst wichtige Aspekte des Stücks Mauser vorgestellt werden. Das Stück wird in seiner exemplarischen Rolle als Lehrstück im Hinblick auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu Brechts Maßnahme analysiert. Es wird erläutert, inwiefern sich Brechts und Müllers Ansichten zu Anspruch und Aufbau eines Lehrstücks unterscheiden. Des Weiteren wird ein intrinsisches Verständnis des Stücks angestrebt. Es wird untersucht, was die Kernthemen und Konflikte sind, welche philosophischen Gedanken zu Grunde liegen und wie Mauser seine Wirkung auf die Beteiligten erzielt (Mieth (A)). Müllers Lehrstück Mauser im Vergleich zu Die Maßnahme Das Theaterstück Mauser, welches über die Notwendigkeit des Tötens während der Revolution reflektiert, schrieb Heiner Müller im Jahr 1970 (Bathrick und Huyssen 110). Darin wird ausgelotet, ob Töten tatsächlich nötig ist, um Neuerung zu ermöglichen, und ob dieser Preis des höheren Ziels nicht zu hoch ist. Es erfolgt jedoch keine eindeutige Stellungnahme zu dieser Thematik und so wurde das Stück, noch bevor es in der DDR uraufgeführt werden konnte, als konterrevolutionär verboten. Die Uraufführung fand daher erst 6 Jahre nach der Fertigstellung durch eine studentische Theatergruppe in Texas statt. In der Bundesrepublik wurde Mauser zuerst 1980 in Köln aufgeführt. In Mauser setzt sich Heiner Müller ebenso wie in seinen vorhergehenden Stücken Philoktet und Der Horatier mit der Brecht’schen Lehrstückstheorie auseinander, wie er in seiner Anmerkung zu dem Stück schreibt: „Mauser, geschrieben 1970 als drittes Stück einer Versuchsreihe, deren erstes Philoktet, das zweite Der Horatier, setzt voraus/kritisiert Brechts 35 Lehrstücktheorie“ (Mauser 68). Brecht versuchte mit seinen Lehrstücken ein Theater zu schaffen, in dem die Idee einer Tragödie verworfen wird (Bathrick und Huyssen 111). Die Zuschauer treten in einem Lehrstück gegenüber den Schauspielern in den Hintergrund, da in dieser Art von Stücken die Darstellenden etwas lernen sollen (Steinweg 87). Das Lehrstück ist im eigentlichen Sinne also nicht für Publikum konzipiert, Zuschauer dürfen aber anwesend sein (ibid. 88). Weder Darsteller noch Zuschauer sollen durch die Identifikation mit einem Protagonisten innerlich bewegt werden, sondern beide sollen direkt in den Vorgang des Stücks hineingezogen werden (ibid. 93). Im Idealfall gibt es keine Grenze zwischen Bühne und Publikum – Schauspieler und Zuschauer sind identisch (Wieghaus 64). Die Rollenzuweisungen können alternieren. In Die Maßnahme soll zum Beispiel der „Junge Genosse“ nicht festbesetzt werden. Es ist deswegen angemessener von Teilnehmern, in der Brecht’schen Ausdrucksweise „Beteiligten“, zu sprechen. Durch die Teilnahme am Theaterprozess soll eine direkte Urteilsbildung in Bezug auf den Inhalt des Stücks möglich sein. Spezifische Faktoren von historischen Situationen werden isoliert und durch die Erfahrung der Teilnehmer im Spiel ausgelotet (Bathrick und Huyssen 111). „Verfremden“ bedeutet bei Brecht, soziale Basisvorgänge zwischen Menschen historisch darzustellen (Steinweg 160). Die Teilnehmer können durch den zeitlichen Abstand dann distanziert über das Geschehen nachdenken (ibid. 160). Diese Methode nutzt Brecht, um durch eine rationale Herangehensweise an problematische Phänomene Mechanismen der Idealisierung offenzulegen, denn auf Grund des hohen Abstraktionsgrades entsteht eine innere Distanz der Teilnehmer zur Darstellung, die eine rationale Reflektion ermöglicht (Gratzke 462; 464). Die Erfolge der Verfremdungstechnik hängen maßgeblich von der Inszenierung ab (Steinweg 160). Ziel des Lehrstücks ist pädagogische Arbeit im Rahmen eines politischen Seminars (Bathrick und Huyssen 112). Brecht 36 entwickelte das Konzept des Lehrstücks, um den Revolutionären – also in der Theorie Laiendarstellern- eine selbstreflektierte Auseinandersetzung mit historischen Prozessen zu ermöglichen (ibid. 110). Echtes Lernen ist demnach nur durch Erfahrung möglich. Diese Erfahrung soll die Teilnahme an der Inszenierung ermöglichen. Der rationale Reflektionsprozess soll durch Elemente der Verfremdung gewährleistet werden. Der Lerneffekt einer distanzierten Teilnahme am Theater soll demnach größer sein als das Miterleben der Affekte im klassischen Drama (GBA 21, 153). Viele Literaturtheoretiker gehen außerdem davon aus, dass eine spezifische Lehrmeinung vermittelt wird (Bathrick und Huyssen 111). In Bezug auf Die Maßnahme kann diese Intention allerdings hinterfragt werden11. Heiner Müller als Verfasser von Lehrstücken gilt als würdigster Nachfolger Brechts, welcher Brechts Idee nicht nur aufgreift, sondern weiterentwickelt und verschärft (Fehervary 84). In seiner klarsten Form geschieht dies in Mauser (115). Das Stück enthält wenige Handlungselemente im Bühnengeschehen und speist sich mehr aus Erzählungen der Bühnendarsteller. Die Aufstellung der teilnehmenden Personen folgt nicht dem Modell eines klassischen Theaterstücks. Keine Person wird namentlich genannt, hingegen werden die drei Personen –eigentlich sollte besser von Entitäten gesprochen werden – mit den Buchstaben „A“ „B“ und mit „Chor“ bezeichnet. „A“, ein Mitglied der Revolutionsfront, muss sich für seine Art zu töten, die ab einem gewissen Zeitpunkt wie in einem Trancezustand oder wie bei einem Berserker stattfand, rechtfertigen. „A“ hat unter anderem „B“ getötet, der auch ein Mitglied der Revolutionsfront war. „B“ reagierte auf das Töten jedoch komplett anders als „A“ und 11 Darüber hinaus ist umstritten, inwiefern Brecht seinem eigenen Ideal von Lehrstück gerecht wird oder doch der klassischen Dramenform verhaftet bleibt. Bathrick und Huyssen weisen darauf hin, dass Die Maßnahme als dramatische Tragödie gelesen werden kann (ibid.). Dafür sprechen die Zärtlichkeit der Exekution des Jungen Genossen und auch der Einsatz und die herausragende Bedeutung der Musik (ibid.). Naturalistische und tragische Elemente, die sich beispielsweise durch die historische Verortung der Handlung zeigen, entfalten in Die Maßnahme jedoch eine Wirkung entgegen der Intention des Lehrstücks. Der Tod selbst ist konkretes Objekt des Stücks und dies führt dazu, dass das Stück als Tragödie missverstanden wird (ibid. 112 f). 37 verweigerte sich an einem bestimmten Punkt seinem Auftrag des Tötens. Die nicht bühnenpräsente Handlung des Tötens an der Revolutionsfront wird in der Stadt Witebsk, einer russischen Stadt, die während der Revolutionshandlungen fast komplett zerstört wurde, lokalisiert. Der Ort „Witebsk“ steht jedoch nach Angabe Müllers in seiner Anmerkung exemplarisch für „alle Orte, an denen eine Revolution gezwungen war ist sein wird, ihre Feinde zu töten“ (Müller 68). Der Titel des Stücks ist zweideutig: Er kann zum einen die Erneuerung des Federkleides eines Vogels bedeuten, zum anderen verweist er auf den Revolver „Mauser“, der als Waffe der russischen Revolutionäre gilt. Letzteres ist meiner Ansicht nach die dominante Bedeutung, da sie einen stärkeren Bezug zum Inhalt des Stücks darstellt, denn als automatische Schusswaffe verweist der „Mauser“ auf maschinelles Töten. Der Titel kann entweder so gedeutet werden, dass der Mensch während des Revolutionsgeschehens nahezu zum Revolver wird oder dass er durch den Revolver dominiert wird. Die zweite Bedeutungsimplikation verweist auf Erneuerung. „Sich mausern“ wird in der deutschen Umgangssprache auch verwendet, um darauf hinzuweisen, dass eine Person oder Sache sich positiv entwickelt hat, ihre Fähigkeiten entwickelt hat oder sogar über sie hinaus gewachsen ist. Die positive Wandlung kann auf „A“, „B“ oder die Revolution selbst bezogen werden. Auf die Revolution bezogen, spielt der Titel „Mauser“ darauf an, dass Altes abgestoßen werden muss, um Neuem Platz zu machen. Der Grad der Abstraktheit und somit Entfremdung ist höher als in Die Maßnahme. In Müllers Stück werden die Teilnehmer, im Gegensatz zu Brechts, bis auf den „Chor“ nicht mit Personenkategorien wie „Genosse“ beschrieben; stattdessen werden ihnen nur Buchstaben zugeordnet, wodurch sich die Entpersonalisierung verschärft zeigt (Bathrick und Huyssen 117). Die teilnehmenden Entitäten in Mauser sind außerdem bei der Inszenierung nicht fest zu besetzen, sondern fluktuierend darzustellen: „Die vorgegebene Textaufteilung ist ein variables 38 Schema“ (Mauser 69). Darüber hinaus ist die Teilnahme des Publikums sehr wichtig. Müller schreibt, dass dem Publikum ermöglicht werden soll, den Text mitzulesen. Er formuliert mit einem Anklang leichter Ironie: „Aufführung vor Publikum ist möglich, wenn dem Publikum ermöglicht wird, das Spiel am Text zu kontrollieren (…)“ (Mauser 69). Mauser bietet außerdem kaum Anhaltspunkte einer vorgedachten Interpretation durch den Stückeschreiber an. Bei Brecht ist zumindest vordergründing eine solche Lösung, eine „übergeordnete Instanz einer Gewissheit und damit eines Urteils“, zu finden (Bathrick und Huyssen 111). Die spezifische Historizität wird in Mauser gegenüber Die Maßnahme stärker vernachlässigt (Bathrick und Huyssen 111). Es gibt bei Müller, bis auf die konkreten Ortsbezeichnungen kaum Hinweise auf spezifische geschichtliche Ereignisse (ibid. 115). Die Ortsangaben wie „in der Stadt Witebsk“ und „in den Gefängnissen von Omsk bis Odessa“ (Mauser 55) können durchaus als konkrete historische Hinweise aufgefasst werden, denn obwohl es keine Zeitangaben sind, macht der Verweis auf sie nur Sinn, wenn der historische Kontext beachtet wird. Auch die Erzählform in Müllers Stück ist weniger zeitlich definiert als bei Brecht. Brecht erzählt in Form einer retrospektiven Erzählung, Müller bricht diese Erzählform auf und mischt Erzählung und Erlebnis (Bathrick und Huyssen 117). Es ist beim Vergleich der beiden Stücke zu beachten, dass Brecht für ein Publikum schreibt, welches den Sozialismus in der DDR noch nicht kennengelernt hat, und Müller aus einer Perspektive reflektiert, welche die Implementierung sozialistischer Ideen in der DDR berücksichtigen kann (ibid. 115). Müller konnte überblicken, wie sich die Revolution in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt hatte und was danach folgte, nämlich der real existierende Sozialismus. Das eigentliche Problem in Die Maßnahme, die Situation des Jungen Kameraden, dem in Mauser „B“ entspricht, ist bei Mauser nur der Ausgangspunkt der 39 gedanklichen Überlegung (ibid. 115). Eine der zahlreichen Interpretationsmöglichkeiten von Mauser geht davon aus, dass das verhandelte Hauptproblem die Frage ist, ob der Konflikt zwischen absoluten Werten zwangsläufig zum Untergang des Individuums führen muss (ibid. 113). In der später folgenden Auslegung soll jedoch aufgezeigt werden, dass mehrere Problemfelder dargestellt werden, und zwar wird einerseits die Existenz von absoluten Werten in ihrer Dialektik innerhalb eines Systems untersucht und andererseits die Spannung zwischen Individualismus, Wohl des Kollektivs, Menschlichkeit und „Mensch-Sein“ diskutiert. Dadurch, dass die absoluten Werte nur dialektisch im Rahmen des Systems diskutiert werden, wird ihre Relevanz für Humanität grundsätzlich in Frage gestellt. Humanität bezieht sich hierbei auf das Wohl des Individuums wie auch auf das des Kollektivs. Das Individuum befindet sich in dialektischer Spannung zwischen Unmenschlichkeit, die aus einem Verlust an individueller Kontrolle resultiert, und der Forderung des Kollektivs nach kontrolliertem Töten (ibid. 115). „A“ wird durch den Konflikt der gegensätzlichen Ansprüche zerrissen und trennt sich von seiner das Wohl des Kollektivs im Auge behaltenden Humanität. Die animalische Seite des „Mensch-Sein“ nimmt überhand und „A“ findet sich in einer Orgie der Zerstörung wieder, in der „A“ mit seinem Revolver, dem Mauser, verschmilzt (ibid. 116). „A“ wird angeklagt, weil er getan hat, was man ihm auftrug (ibid.). Sein Tod wird nicht gezeigt und nicht als tragisches Opfer stilisiert (ibid. 117). Thema des Stücks ist nicht nur der Verlust von Humanität durch Töten, sondern der Verlust des Bewusstseins für die eigenen Handlungen (ibid. 117). Dies geschieht laut Bathrick und Huyssen durch „A“s Verdinglichung im marxistischen Sinne. Im Lernprozess des Spielens soll die Verdinglichung nachvollzogen und bewusst gemacht werden. Dazu wird Verdinglichung zuerst konstruiert und dann dekonstruiert (ibid. 118). Um dieses Lernziel zu verwirklichen setzt 40 Müller Verfremdungseffekte ein. Er ergänzt diese Methode jedoch um eine stärker dem Körperlichen und Unbewussten zugewandte Komponente. Michael Gratzke kommt in seinem Aufsatz zur Klassikerrezeption Müllers zu dem Ergebnis, dass Müllers Sprache in Mauser vitaler und sinnlicher als Brechts ist und eine stärkere Verbindung zu den Emotionen eines Individuums aufweist (ibid.466; 468). Die Idee, dass das „Bewusstsein des Schreckens die Möglichkeit des zukünftigen Menschen offenhält“ kommt ebenfalls zum Ausdruck (ibid. 469). Analyse von Mauser im Hinblick auf eine Pädagogisierung Mauser bezieht sich eindeutig auf Brechts Die Maßnahme (1930/1931) und führt die darin angelegten Situationen weiter12. In Brechts Stück steht die Frage im Vordergrund, ob dem Ziel der Revolution auch Menschen geopfert werden sollten, wenn sie dem Revolutionsziel, welches nur durch Opfer erreicht werden kann, durch menschliches Mitleid entgegenwirken. Zu dieser Thematik gesellt sich bei Müller die Reflektion darüber, ob die Menschlichkeit eines Menschen in einer revolutionären Situation erhalten bleiben kann. Verfasst ist das Stück in reimlosen Versen, die häufig eine vieldeutige Syntax aufweisen. Nicht selten sind die Sätze so geschrieben, dass sie vor allem durch Anspielungen und ambivalenten Nachhall keine eindeutige Interpretation zulassen. Dafür, dass Müller in einem Satz mit vielen Stimmen spricht, ist folgende Zeile ein Beispiel: „Wir sehen, daß deine Hand blutig ist“ (65). Der dem „Chor“ in den Mund gelegte Satz kann auf Ebene des Individuums bedeuten, dass „A“ sich die Hände schmutzig gemacht hat, als Kennzeichen seiner Schuld. Von Seiten des Revolutionskommandos könnte er bedeuten, dass „A“ seine Arbeit des Tötens gut gemacht hat. Liest man eine Anspielung auf die Wundmale Jesu mit, so klingt das Bild der 12 Als weiteren wichtigen Einfluss auf Mauser nennt Müller Scholochows Roman Der Stille Don (68), auf den sich im Text Anspielungen wie zum Beispiel die häufig wiederholte Phrase „Das Gras noch müssen wir ausreißen, damit es grün bleibt“ finden (Mauser 55; Wieghaus 74/75). 41 Auferstehung an. Die Auferstehung ist im Christentum nicht nur ein Symbol für das ewige Leben, sondern auch ein notwendiges Opfer zur Erlösung der Gläubigen. Jesus opfert sich stellvertretend für die Sünden der Menschheit. Die Aufopferung Jesu, die den Gläubigen zur Vergewisserung dienen soll, ist gleichzeitig das Modell für christliche Märtyrer, die sich im Diesseits und im Glauben an ein Jenseits für den ‚wahren‘ Glauben opfern. Auch in anderen Formulierungen wird in Mauser diese Thematik aus der christlichen Mythologie aufgegriffen. Auch der Ausdruck „Wissend das tägliche Brot der Revolution“ spielt auf diese Motivik an und erzeugt durch die häufige Wiederholung eine spezifische Rhythmik (Mauser 55). Durch das rhythmische Wiederkehren von Phrasen wie der gerade genannten entsteht ein rhythmischer „Singsang“, der als stilistisches Merkmal des Textes hervortritt. Teilweise beinhalten diese wiederholten Phrasen Slogans des Kommunismus oder der Revolution wie zum Beispiel „Proletarier aller Länder vereinigt euch“ (Mauser 56). Der zeitliche Aufbau von Mauser ist verschachtelt und nicht chronologisch. Es spricht zum Beispiel auch „B“, obwohl er tot ist. Dieser komplexe Aufbau fordert vom Benutzer „ein Höchstmaß an Eigenaktivität“ (Wieghaus 64). Viele stilistische Elemente erzeugen eine Stimmung von Zweifel und Ambivalenz – ein Umstand, der wahrscheinlich – entgegen Müllers Intention ein prosozialistisches Drama zu schreiben – zum Aufführungsverbot des Stückes durch die Zensur in der DDR beigetragen hat. Fragen sind nie mit Fragezeichen als solche gekennzeichnet. Dies könnte darauf hindeuten, dass sie nicht als Fragen gestellt, sondern vielmehr als zu erörterndes Problem geäußert werden. Vielleicht ist das Fehlen der Fragezeichen auch ein Hinweis darauf, dass die Beteiligten das Fragen verlernt haben. 42 In der folgenden Interpretation wird davon ausgegangen, dass es in Mauser um die Funktion bzw. Umfunktionierung des Individuums geht, welche zur Entmenschlichung bzw. Verdinglichung des Menschen führt (Wieghaus 64). Die Diskussion innerhalb des Stücks kreist somit um die Gegenüberstellung von Mensch und Ding. In Mauser wird der Mensch auf sein Funktionieren im System hin untersucht. Arbeit und somit Funktionalität ist Grundlage von und einzige Rechtfertigung für Existenz: „Wer nicht töten will, soll auch nicht essen“ (Mauser 57). Der Menschen wird auf seine Funktion reduziert: „Stell dich an den Platz/auf dem die Revolution dich braucht von nun an/ bis sie dich braucht auf einem andern Platz“ (ibid.). Das Subjekt verschwindet hinter seinem „Platz“, seiner Position im Gefüge: „Aber sie muss getan werden wie andre Arbeit/Von dem einen oder von dem andern“ (ibid. 65). Die Revolution instrumentalisiert den Menschen nicht nur, sie konsumiert ihn: „Sondern deine Arbeit hat dich aufgebraucht“ (ibid. 66). Sehr häufig taucht das Motiv der Hand auf. DieHand steht für das Handeln oder den Handelnden. Dieses Handeln ist meist gleichbedeutend mit Töten, was unter anderem an der Stelle ersichtlich ist, an der die Hand mit dem Revolver verschmilzt: „der Revolver meine dritte Hand“ (ibid. 58). „Hand“ wird meist entweder durch ein Possessivpronomen oder durch eine Zahlenangabe näher beschrieben: „meine Hand“, „deine Hand“, „seine Hand“, „dritte Hand“ oder „tausend Hände“ (ibid. 58, 59). Es geht also um die Zuschreibung von Handlung oder Tätigkeit an den Handelnden. Hierin zeigt sich besonders deutlich eine Spannung zwischen Individuum und Kollektiv. „Ich nehme meine Hand aus dem Auftrag“ (ibid. 58), sagt zum Beispiel „B“, als er sich dem Töten verweigert. Dies kann einerseits als Zurücktreten von der Kampfhandlung gesehen werden; als Gegensatz zur Phrase „für etwas die Hand ins Feuer legen“ 43 zeigt es jedoch auch den inneren Konflikt und den Zweifel am Ziel und an der Idee der Revolution auf. Auch die marxistische Kritik an Besitzverhältnissen, die hier auf den Besitz von Individualität und individueller Meinung ausgedehnt ist, wird durch Bilder aus dem Motivkreis „Hand“ zum Vorschein gebracht: „Nämlich deine Hand ist nicht deine Hand/ So wie meine Hand nicht meine Hand ist/ eh die Revolution gesiegt hat endgültig/ In der Stadt Witebsk wie in anderen Städten“ (ibid. 58). Das „ich“ wird erst wieder in der Utopie stattfinden. Die Widersprüchlichkeit dieser Logik, die dem Individuum seine Individualität abspricht, zeigt sich in „Tausend Hände an unserer Kehle“ und „Und wir töteten ihn mit meiner Hand“ (ibid. 59). Die Grenzen zwischen Kollektiv und Individuum zerfließen: Das Kollektiv hat eine Kehle und es tötet mit der Hand des Einzelnen. Dem Individuum bleibt lediglich die Angst: „Chor [A]: Deine Angst gehört dir“ (ibid. 68). Das scheinbare Gegensatzpaar „Individuum versus Kollektiv“ ist ein weiteres Schlüsselelement in Mauser. Aus einer Perspektive, die auf den ersten Blick den Kapitalismus und auf den zweiten das Prinzip des absoluten Systems an sich in Frage stellt, wird das Individuum durch das Kollektiv zum „Rädchen im Getriebe“ gemacht, indem es dem absoluten System untergeordnet und kontrolliert wird. Diese Sichtweise wird allerdings kritisiert, denn Kollektiv und Individuum sind sich gerade nicht entgegengesetzt, sondern bedingen und beinhalten sich gegenseitig. Im mathematischen Sinne beinhaltete die Menge „Kollektiv“ die Teilnehmer „A“ und „B“. Die Menge des Kollektivs ist dadurch bestimmt, dass sie mit mehreren Teilnehmern gefüllt ist. Sie kann nicht leer sein oder nur einen Teilnehmer haben. Im organischen Sinne besteht die Menge aus einzelnen mit einander in Verbindung stehenden Teilen. Die Bewegungen der Menge wirken auf die einzelnen Teile und beeinflussen 44 diese. Betrachtete man das menschliche Kollektiv, so prägt es durch Einflussnahme auf die Entwicklung des Einzelnen. Strömungen und Impulse im Kollektiv wirken durch Einverleibung und soziale Konstruktion auf das Individuum. Dagegen hat nach einer statischen, anorganischen Auffassung jedes Teil seinen Platz und es besteht keine fluide, flexible Verbindung zwischen Individuum und Kollektiv. Allerdings kann durch eine übergeordnete Instanz das „Einzelteil“ ersetzt werden. Im Rahmen einer organischen Auffassung kann das Einzelteil nachwachsen. Der immer wiederkehrende Slogan „Das Gras noch müssen wir ausreißen, damit es grün bleibt“ (Mauser 55) kann ein Hinweis auf die doppelt mögliche Interpretation als organisches oder statisches Prinzip des Systems sein. Er repräsentiert gleichzeitig eine wie durch Gehirnwäsche entstandene dogmatische Äußerung, die eine unmögliche Aussage macht, da sie, wenn „es“ als Pronomen für „das Gras“ verstanden wird, einer falschen Kausalität anhängt. Man kann Müllers Formulierung auch als Verschärfung der Aussage aus Der stille Don betrachten, denn dort geht es darum, dass Gras zu düngen (Wieghaus 74). Bei Müller soll es gleich ganz mit der Wurzel ausgerissen werden (ibid. 75). In jedem Fall ist „Gras“ eine organische Metapher: Düngen bedeutet „hegen und pflegen“ und „ausreißen“ eigentlich das Gegenteil, nämlich bekämpfen und im Extremfall vernichten. Hier kommt der bereits in der Kapitelüberschrift zitierte Ausspruch „Damit etwas kommt muss etwas gehen“ zu tragen, der besagt, dass Altes verschwinden muss, um Neuem Platz zu machen. Vertritt Heiner Müller, wie sein Zitat vermuten lässt, also diese Idee von einem Gleichgewicht zwischen Verschwinden und Entstehen, Vernichten und Erschaffen? Die Logik der Maschine zeigt sich im Verhältnis zwischen Einzelteil und Maschine, welches dem Prinzip des Ersatzes folgt: Wenn etwas fehlt, muss es ersetzt werden. Wenn ein Teil nicht richtig funktioniert, dann muss es zuerst entfernt und schnellst möglich mit einem Äquivalent ausgetauscht werden. Wieghaus unterstützt diesen Gedanken und schreibt: „(…) die 45 Bewußtheit, den ‚alten‘ Menschen gänzlich zerstören zu müssen, um den ‚neuen‘ zu schaffen, ist nach Ansicht des Parteichors einziges Kriterium revolutionärer Gesinnung und Praxis“ (73). In diese Logik lässt sich auch die Passage einordnen, in der das Individuum aus Sicht des Kollektivs ein Fehler ist. „A“ gesteht: „Ich habe einen Fehler gemacht“ und der „Chor“ antwortet: „Du bist der Fehler“ (Mauser 56). Das Individuum „A“ weist auf seine Existenz als organisches Leben hin: „Ich bin ein Mensch“ und der Chor antwortet: „Was ist das“ (ibid. 56). Das maschinenartige Kollektiv kann organisches Leben qualitativ nicht erkennen oder verarbeiten/verwerten. Die Menschlichkeit muss in dieser Art von Menge zwangsläufig verloren gehen. Auch an anderer Stelle folgt Müller dieser Argumentation, zum Beispiel wenn er in seiner Rede Deutschland Ortlos anlässlich der Verleihung des Kleist-Preises Bezug auf Kleists Modell der „Emigration/Vertreibung aus der Zeit in den Raum“ nimmt (Deutschland Ortlos 383/384). Er parallelisiert seine Lesart Kleists mit zwei verschiedenen Phänomenen und zwar Francisco de Goyas absoluter Malerei, „die ein Reflex der Verwandlung des Globus in eine Landkarte war“ sowie Nietzsches Feststellung, dass Gott tot ist (ibid.). Müller stellt eine Beziehung zu Marx’ Utopie her. „Die Geburt des Menschen jenseits der Ökonomie“ sei laut Marx „in Wahrheit die erste Bewegung in Richtung einer Aufhebung des Menschen in seiner Schöpfung“. Im Falle einer durch Technisierung vorangetriebenen Entfremdung des Menschen von seiner Umwelt ist der Fortschritt die „Hochzeit von Mensch und Maschine“, die keiner Zeit mehr bedarf und deswegen einen Schritt „aus seinem Zeitraum in die Raumzeit“ darstellt (Deutschland Ortlos 383/384). Müller weist in seiner Anmerkung zum Stück daraufhin, dass Mauser ein Beispiel präsentiert, „an dem das aufzusprengende Kontinuum der Normalität demonstriert wird“ (68). Ist die Normalität also die der Maschine, repräsentiert durch den Parteichor, die im Extremfall im 46 dualen System denkt, also nur „1“ oder „0“ kennt? In Mauser heißt es: „Das Natürliche ist nicht natürlich/ Sondern das Gras müssen wir ausreißen/ Und das Brot müssen wir ausspeien“ (59). Diese Logik der Maschine gilt in Mauser also nicht als das „Natürliche“. Nach dem Prinzip des organischen Lebens gibt es andere Möglichkeiten „Neues“ zu schaffen und zwar durch Umformung, Umdeutung, Zuwachs und Zeugung. Wandel passiert nicht nach dem Prinzip: „Damit etwas kommt, muss etwas gehen“. Warum sollte hier ein Gleichgewicht nötig sein? Das „natürliche“ Gesetz der Erhaltung von Entropie gilt nicht für Ideen oder geschichtliche Prozesse. Der Satz „Das Gras noch müssen wir ausreißen, damit es grün bleibt“ (ibid. 55) kann auch als eine kritisch ironische Anspielung auf Utopien, wie die kommunistische, verstanden werden. Die Revolution fordert ständige Veränderung durch Vernichtung, um das Gras auf der anderen Seite – also in der Zukunft – grüner zu machen. Kritisiert wird bei diesem Verständnis die Utopie um der bloßen Utopie willen: „Wozu das Töten und wozu das Sterben/Wenn der Preis der Revolution die Revolution ist/ Die zu Befreienden der Preis der Freiheit“ (ibid. 59). Satirisch anmutend wirkt in diesem Zusammenhang auch Müllers Gegenüberstellung von „Menschheit“ und „Menschlichkeit“: „Du weißt, was wir wissen, wir wissen, was du weißt./Die Revolution wird siegen oder der Mensch wird/ nicht sein/ Sondern verschwinden in zunehmender Menschheit“ (64). Die intertextuellen Anspielungen auf Kafkas In der Strafkolonie „den Text auf den Leib geschrieben“ und „Von trägen Beamten lustlos gefoltert/ lernte ich nichts über das Leben nach dem Tod“ (ibid. 56) weisen auch auf ein ungerechtes System hin. Die Kritik am System kann als Kritik an der Doktrin des Kommunismus, dass sich der Mensch dem größeren Ziel unterordnen soll, und an der realen Revolution gelten: „(…) die Revolution selbst/ ist nicht eins mit sich selber, sondern der Feind mit/ Klaue und Zahn, Bajonett und Maschinengewehr/ schreibt in ihr lebendes Bild seine schrecklichen Züge“ (ibid. 59). Durch die Missachtung der 47 Menschlichkeit ist die Revolution ihr eigener Feind. In diesem Bild werden die Entwicklungsstufen der Menschheit anhand der Waffen wachgerufen: „Klaue“, „Bajonett“ und „Maschinengewehr“ stehen für den Übergang vom tierischen Mensch zur Maschine. Das Zusammendenken von christlicher Mythologie und kommunistischer Utopie Diese Kritik an der kommunistischen Utopie wird durch das Einflechten christlicher Bilder, die den in der christlichen Praxis gelebten Mythos repräsentieren, unterstrichen. Der immer wiederkehrende Ausspruch „Das tägliche Brot der Revolution“, welcher an die Zeile „Unser tägliches Brot gib uns heute“ aus dem Vaterunser erinnert, verweist darauf, dass „das Revolutionstribunal“ „den Tod austeilt“ (Mauser 57). Im christlichen Ritus verkörpert das Brot jedoch den Leib Christi und ist ein Symbol der Auferstehung und seiner Aufopferung. Auch an anderer Stelle spielt Müller auf die christliche Auferstehungslehre an: „aufstehend aus der Kette der Geschlechter“ (63) oder „Was zählt ist das Beispiel, der Tod bedeutet nichts“ (63). Diese Aussagen legen ein lineares Geschichtsbild zu Grunde, das auf einen existentiellen Übergang ausgerichtet ist. Allerdings geht es in der christlichen Lehre nicht ums Töten, das heißt „vorzeitiges Sterben“, sondern um das „Sterben“ an sich. Sterben ist das Unausweichlich- Natürliche, und Töten das Künstlich-Unnatürliche. Aber auch Jesus als menschgewordener Gott musste im System der Lehre von der Auferstehung seinen Platz einnehmen als beispielhaftes Opfer einnehmen und so sagt „A“, der an dieser Stelle als Abbild Jesu verstanden werden kann: „Ich habe meine Arbeit getan. Seht meine Hand“ (ibid. 65). Die Bedeutung Jesu für die christliche Religion/Mythologie ergibt sich aber gerade durch seinen Tod bzw. das Beispiel seiner Überwindung des Todes. Durch die Anspielungen auf eine eschatologische Lehre wird hingewiesen auf „die christliche Endzeit der MASSNAHME“ (ibid. 85). Zahlreiche Verse, in 48 denen es um den zu tötenden „A“ geht, können als Hinweis auf den Leidensweg Jesu verstanden werden: „Der zum Sterben geführt wird, der keine Zeit hat/ Mit meinem letzten Atem jetzt und hier/Frage ich die Revolution nach dem Menschen“ (ibid. 66). Die Relevanz des individuellen Todes ist bei den Revolutionären nicht anerkannt. Sie müssen töten und sterben, um einem „höheren“ Ziel zu dienen, ihr Tod hat jedoch nach der Logik des maschinenartigen Systems einzig die Bedeutung, dass ihr Platz neubesetzt werden muss. Laut Adorno und Horkheimer tritt an die Stelle des religiösen Opfers in der modernen Zivilisation der Heros als Stellvertreter des Opfers (Adorno/Horkheimer 73). Der Heros ist der Prototyp des seinen Bedürfnissen entsagenden Menschen, denn der Entsagende „gibt mehr von seinem Leben als ihm zurückgegeben wird“ (ibid.). Sie prangern diesen Missstand eines ungerechten Tauschs in Bezug auf die kapitalistische Gesellschaft an und sprechen von einer „falschen Gesellschaft“ (ibid.). In der vorliegenden Lesart von Mauser kann auch die sozialistische Gesellschaft als eine solche „falsche Gesellschaft“ gedeutet werden. Die Frage danach, wie Wandel möglich ist und ob dafür die Menschlichkeit geopfert werden muss, wird auch in Anspielungen auf die biblische Schöpfungsgeschichte von sieben Tagen verhandelt: „und am dritten Morgen“ oder „Am siebenten Morgen sah ich ihre Gesichter“ (ibid. 60). Heiner Müller stellt der Schöpfung die Implosion derselben am Ende einer linearen Zeit entgegen: „zur Zeit des Stirb oder Töte“ (ibid. 56). Das Kollektiv findet sich am Ende der Zeit in einer Vernichtungsschlacht wieder: „An einem Morgen in der Stadt Witebsk/ Mit der Stimme der Partei im Schlachtlärm/ den Tod auszuteilen an ihre Feinde“ (ibid. 60). Der kreative Akt der Schöpfung schlägt um in sein entgegengesetztes Extrem, die Vernichtung. Auf Ebene des Individuums zeigt sich dies als Zeugungs- bzw. Reproduktionsunfähigkeit. So schreibt Müller über den „Abend“ der Revolution: „Und in der Nacht war ich kein Mann, beschwert/ Mit 49 den Getöteten von sieben Morgen/ Mein Geschlecht der Revolver, der den Tod austeilt“ (61). „Geschlecht“ kann hier als Geschlechtsorgan oder als Menschengeschlecht gedeutet werden. In dieser fundamentalen Situation der Unterordnung des Individuums unter die Logik der Maschine ist das Individuum hin- und hergerissen zwischen Anpassung und Entrückung. Diese geistige Dissoziation spiegelt sich in der Kernsituation von „A“, der sagt: „Teilte den Tod aus wie nicht meine Hand/ Und das Töten war ein andres Töten/ Und es war keine Arbeit wie keine andere“ (ibid. 60). Das Resultat ist die Entfremdung des Menschen von sich selbst: „Und am Abend sah ich mein Gesicht/ Das mich ansah mit nicht meinen Augen“ (ibid. 61). Dieses Kernelement von Mauser kann einerseits so interpretiert werden, dass „A“ sich von seiner Menschlichkeit verabschieden muss und sie am Ende, so wie auch das Bewusstsein für sich selbst, verloren hat. Andererseits kann der Tötungsrausch als urmenschliche Reaktion verstanden werden, die zu den Grundmustern menschlichen Verhaltens gezählt werden muss. Die Frage, ob Menschlichkeit unkontrollierbar oder kontrollierbar ist, bleibt unbeantwortet. Abschließend könnte man sagen, dass sowohl der Einzelne als auch das Kollektiv als für die Revolution notwendig und hinderlich dargestellt werden. Das Individuum ist geschichtlich geprägt und wünscht sich, dass sein Tod nicht bedeutungslos ist: „Ich Rad Galgen Strick Halseisen Knute Katorga“ (ibid. 63). Das individuelle Gewissen und Empfinden muss jedoch zurückgestellt werden: „Dein Gewissen ist die Lücke in deinem Bewußtsein/ Die eine Lücke an unserer Front ist. Wer bist du.“ (62). Wandel und „Für die Kommenden ein reiner Tisch“ (64) sind aber nur möglich, wenn Erinnerung stattfindet und weitergegeben wird. Der Chor gibt den Rat: „Was du lernst vermehrt unsere Erfahrung./ Stirb lernend. Gib die Revolution nicht auf“(67). 50 Heiner Müllers Abkehr vom Lehrstück als WirkungsvOllem theater: „Damit etWas kOmmt muss etWas gehen13“ 1977 macht Heiner Müller in einer Stellungnahme deutlich, dass er ab diesem Zeitpunkt keine Lehrstücke mehr schreiben möchte, weil er das Konzept für überholt hält: Ich werde nicht die Daumen drehn, bis eine (revolutionäre) Situation vorbeikommt. Aber Theorie ohne Basis ist nicht mein Metier, ich bin kein Philosoph, der zum Denken keinen Grund braucht, ein Archäologe bin ich auch nicht, und ich denke, daß wir uns vom LEHRSTÜCK bis zum nächsten Erdbeben verabschieden müssen. Die christliche Endzeit der MASSNAHME ist abgelaufen, die Geschichte hat den Prozeß auf die Straße vertagt, auch die gelernten Chöre singen nicht mehr, der Humanismus kommt nur noch als Terrorismus vor, der Molotow Cocktail ist das letzte bürgerliche Bildungserlebnis (Mauser 85). Aus dieser Stellungnahme geht hervor, dass Heiner Müller mit seinen Stücken weiterhin politische Ziele14 im Sinne der engagierten Kunst verfolgt: „Ich werde nicht die Daumen drehen“. Allerdings weist er daraufhin, dass sich die geschichtliche Situation so verändert hat, dass ein Lehrstück nicht mehr funktioniert. Aus dem Zitat geht eine große Enttäuschung über die Entwicklungen der damaligen Zeit hervor, die das Abstumpfen der Menschen beschreibt: „Der Humanismus kommt nur noch als Terrorismus vor“. Heiner Müller äußert hier die Idee, dass Terror und Gewalt die einzigen Kontaktformen von Menschen untereinander und somit das letzte Refugium der Humanität sind. In Jenseits der Nation formuliert Müller diesen Gedanken klarer: 13 Müller in der Anmerkung zu Mauser (68). 14 Müller ist der Meinung, dass die Gesellschaft und der Stückeschreiber aus einem Stück etwas lernen können sollen (Wieghaus 53). 51 „Ohne Kontakt, und Konflikte brauchen Kontakt, stirbt der Mensch im Menschen ab. In Konsequenz bedeutet das, dass der Krieg das letzte Refugium des sogenannten Humanen ist“ (Jenseits der Nation 37). Wahrscheinlich ist Müller bereits zu diesem Zeitpunkt der Meinung, dass die Technisierung seiner Umwelt so weit fortgeschritten ist, dass zwischenmenschliche Kontakte nur noch sehr reduziert stattfinden (Jenseits der Nation 37). Dies führt zu einer Desensibilität von Menschen, die auch in die Wirkung von Theater miteinbezogen werden muss, wenn im Theater ein politischer Lernerfolg erzielt werden möchte. Die hochkomplexe Form des Lehrstücks, die eine große „Eigenaktivität“ von den Teilnehmern fordert, scheint Müller nicht mehr das angemessene Mittel zu sein. Entfremdungseffekte können nur wirksam sein, wenn eine Vertrautheit mit dem Menschlichen vorausgesetzt werden kann. Darüber hinaus hat sich auch die Bedeutung von Utopie gewandelt. „Die christliche Endzeit“ verweist auf die Erzeugung von Bedeutung, und zwar Hoffnung, durch ein eschatologisches Geschichtsverständnis. Diese Art des Menschen, sich in der Geschichte zu begreifen, ist nach Meinung Müllers jedoch seltener geworden. An Stelle dessen lebt der Mensch im tristen „Jetzt“, also auf „der Straße“. Über die Abstumpfung des Menschen schreibt Müller außerdem: „Die Austragung realer Konflikte wird immer mehr durch die Theatralisierung von Konflikten ersetzt“ (Jenseits der Nation 36). „Theatralisierung von Konflikten“ könnte bedeuten, dass Konflikte nur noch als Show, also scheinbar, ausgetragen werden. Eine andere Bedeutung könnte sein, dass auch im Alltag Konflikte theatralisiert und somit zugespitzt werden müssen, damit eine Auseinandersetzung stattfinden kann. Dies heißt aber für das Theater, dass, wenn es mehr als bloße Unterhaltung sein möchte, nach anderen Formen gesucht werden muss, mit denen Menschen bewegt werden können. Durch die „Theatralisierung“ des Alltags ist eine bewusste 52 Überschreitung der Trennung zwischen „Bühne und Zuschauerraum, Produzenten und Konsumenten von Kunst“ nicht mehr erreichbar, da diese nicht mehr als solche empfunden werden würde. In Heiner Müllers Lehrstück soll „die Reflektion der Vorgänge durch die Figuren, gedanklich und emotionell“ „Zitatcharakter“ haben (Mauser 72). Ein Zitieren ist jedoch nur möglich, wenn diese gedanklichen und emotionellen Vorgänge bereits erlebt wurden. Wenn sich in einem Lehrstück die Teilnehmer in der Verhandlung selbst ihre Meinung bilden sollen, müssen gewisse Erfahrungen vorausgesetzt werden können. Die Konsequenz aus diesen Überlegungen ist die Abkehr vom Lehrstück, dessen Ziel es ist, einen Raum für die Reflektion und die Verhandlung von Konflikten zu bieten. Heiner Müller experimentierte mit der Form des Lehrstücks, wobei seine drei Lehrstücke untereinander große Differenzen aufweisen. Mauser ist dabei das abstrakteste, da es am wenigsten historischen Kontext bietet. Durch die Zuweisung der Teilnehmer in Kategorien „A“, „B“ und „Chor“ und das Alternieren des zugewiesenen Sprechens wirkt das Stück mechanisch. Mauser gilt von der Form her als Höhepunkt der Lehrstücke Müllers, da Philoktet und Der Horatier beide auf Klassiker anspielen und somit eine Bedeutungsebene integrieren, die bei Mauser nicht vorhanden ist. Philoktet stellt ein Hybridstück dar; dies ist daraus ersichtlich, dass Müller auf die Bedeutung der Inszenierung hinweisen muss, damit der Verfremdungseffekt sichtbar wird (Wieghaus 60). Anders als in Mauser und Der Horatier treten in Philoktet Personen auf, die durch Namen kenntlich und mit Bedeutung aufgeladen sind, da sie einem klassischen Drama entstammen. Dem Publikum muss laut der Lehrstückstheorie verwehrt werden, sich mit dem Protagonisten Philoktet zu identifizieren. Dies kann in Philoktet nicht allein der Text garantieren, sondern muss durch die Inszenierungspraxis gewährleistet werden (ibid. 60). Dieser Aspekt, den Heiner Müller in Mauser auszuschalten sucht, rückt wieder stärker 53 in sein Blickfeld, nachdem er die Lehrstückstheorie als nicht mehr zeitgemäß verworfen hat. Bewusst nutzt Müller Stoffe der „großen Tragödien von Sophokles und Aischylos“, da er – vor allem in den Mythen – „vergleichsweise einfache und durchsichtige Modelle“ erblickt, „die besonders gut geeignet seien, die Mechanismen der Klassengesellschaft vorzuführen und sich ihre Schrecken und Gefahren zu vergegenwärtigen“ (ibid. 51). In den folgenden Klassiker- (z.B. Hamletmaschine) und Mythenstücken (z.B. Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten) setzt Heiner Müller auf die Bekanntheit von Situationen und Figuren, um es dem abgestumpften Zuschauer zu erleichtern, aus den Stücken „etwas mitzunehmen“. Das Mittel der Entfremdung tritt dabei in den Hintergrund. 54 Chapter IV Mimesis an den Mythos als pädagogisches Element in Müllers Medea-Drama Während des Experimentierens mit dem Konzept des Lehrstücks nutzt Heiner Müller weiterhin mythisches Material, wobei die Verwendung mythischer Elemente jedoch in seinen Lehrstücken gegenüber abstrakten Verfremdungstechniken in den Hintergrund tritt. In Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten greift Müller dagegen sehr stark auf Mythen zurück. Er entfernt sich von der Ebene der starken Abstraktion im Rahmen des Lehrstücks und kehrt zurück zur Darstellung von Alltäglichem bei gleichzeitigem Verschärfen brachialer Elemente. Mythen wirken in diesem Stück auf unmittelbare Art in Form von Bildern. Müller setzt mythische Bilder zum Aufzeigen des Traumas der Zivilisierung15 ein. Er nutzt sie, um Denkmechanismen vorzuführen und somit zum Denken aufzufordern. Der Einfluss von Adorno/Horkheimers Dialektik der Aufklärung, der bereits im Lehrstück Philoktet auffällt (Mieth (B) 85), ist deutlich sichtbar. Allerdings übernimmt Müller die These der Dialektik der Aufklärung nicht in direkter Form, sondern wertet Mythen im Gegensatz zu Adorno und Horkheimer auf. Dabei liegt auch seiner Meinung nach eine Verschränkung von Aufklärung und Mythologie vor. Er verwebt im Medeastück „entzauberte“ Beschreibungen mit mythischen Elementen. Wie Corinna Mieth schreibt, sieht Müller im Zuge seiner postteleologischen Wende die Anregung des Rezipienten zur „Phantasietätigkeit“ als „Aufgabe der Kunst“ (Mieth (B) 77). 15 Unter „Trauma der Zivilisierung“ ist nach Freud die Sublimierung von Trieben unter individuell und kollektiv kontrolliertes Handeln zu verstehen. Diese Sublimierung hat auf längere Sicht hin eine Verdrängung und somit ein Trauma zur Folge. (Totem und Tabu 376). 55 Der Einsatz des Mythos als Plädoyer für das Subjekt „Griechen-Müller“ wird Heiner Müller im deutschen Literaturbetrieb der 1960er Jahre genannt (Wieghaus 49). Diesen Spitznamen hatte er durch seine Affinität zu Themen aus antiken Dramen und griechischer Mythologie erworben, welche unter anderem in den Stücken Philoktet, Herakles 5, Ödipus-Tyrann und Prometheus sichtbar wird (127). In den 1970er Jahren zeigt sich Müllers Faszination für antike Themen durch das Aufgreifen des Medea-Themas. Die Rezeption und Verwertung mythologischer Stoffe bei Müller erscheint zunächst erstaunlich, da die Annahme nahe liegt, dass er sich als linker DDR-Dramatiker aufklärerischem und „entzauberndem“ Gedankengut verbunden fühlen sollte. Schließlich forderte niemand Geringeres als Karl Marx „Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes16“. Welches Potential erkennt Müller in Mythen, die ihrer Natur nach stark einem religiösen Kontext verhaftet sind, so dass sie für seine zeitkritischen und literarisch ausgefeilten Texte fruchtbar scheinen? Stellt sich Müller in seiner Mythenrezeption der Tendenz einer „Entzauberung der Welt17“ entgegen oder nivelliert er den dialektischen Gegensatz zwischen „verzauberndem“ und aufgeklärtem Denken in seiner literarischen Bearbeitung, wie Adorno/Horkheimer es getan haben? Im folgenden Kapitel wird dafür argumentiert, dass Müller in seinem Stück Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten remythisierend vorgeht, indem er durch die bildliche Ebene der Mythen an die Menschen herantritt und sie somit innerlich bewegt. Ziel dieser inhaltlichen und formellen Verwertung von mythischen Aspekten ist es, Gesellschaftskritik anzuregen. Der von antiken oder anderen religiösen Mythen distanzierte 16 Karl Marx: Einleitung zu Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie; in: Deutsch-Französische Jahrbücher 1844, S. 71f, zitiert nach MEW, Bd. 1, S. 378-379 17 Max Weber. Wissenschaft als Beruf. 1919. 56 aufgeklärte Mensch ist gerade durch ihre Exotik von denselben fasziniert. Da sie im Gegensatz zu den festgeschriebenen Paradigmen der Aufklärung als solche erkannt werden, eignen Mythen sich besonders gut zum Anstoß kritischen Denkens. Die Paradigmen der Aufklärung sind dem Menschen bereits zu natürlich geworden, das heißt die Individuen haben sie zu sehr verinnerlicht, um auf Missstände hinzuweisen. Mieth schildert, dass Müller von der Autonomisierung der Kunst ausgeht, da die Kunst zum „Statthalter“ des „verdrängten Nichtidentischen“ wird, „indem sie dessen ursprüngliche Identität mit sich selbst durch ihre Form vollzieht“ (Mieth (B) 67). Kunst als Nachahmung, das heißt einem Streben nach Identität mit etwas anderem, ist deutlich erkennbar als „künstlich“. Sie kann nie die Identität mit dem Dargestellten erreichen. Nach Adornos Theorie zur Ästhetik kann sich Kunst dem Objekt nur annähern und bleibt dabei als Kunstwerk autonom. Kunst folgt demnach dem Prinzip der Mimesis (ibid.). Mieth weist daraufhin, dass Mimesis sich klar von der „magischen Phase“ der Interaktion des Menschen mit der Natur unterscheidet, indem Mimesis nicht darauf abzielt die Natur zu beherrschen, sondern darauf, „das Nichtidentische allererst künstlich zum Sprechen“ zu bringen (Mieth (B) 71). Das Abgebildete stellt etwas dar ohne zu behaupten das Dargestellte selbst zu sein. Kunst hat laut Adorno das Potential, das Verdrängte im Verhältnis zwischen Mensch und Natur aufzuzeigen, denn da Kunst per definitionem nicht vorgibt die Natur identisch abzubilden, macht sie den Menschen die Beziehung zwischen Natur und Mensch bewusst (ibid. 67). Die nun folgende Analyse von Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten zeigt, dass Heiner Müller in seiner Variation des Medea-Stoffes eine Remythisierung vornimmt, die vor allem einer mimetischen ästhetischen Wirkungsdimension des Textes zu danken ist. Zudem wird Müllers Umgang mit „Mythos“ im Diskurs der 57 einflussreichen These Adorno/Horkheimers zur Dialektik der Aufklärung platziert und das zivilisationskritische Moment von Müllers Mythenrezeption erörtert. Die Spannung zwischen mythischen und banalisierenden Elementen in Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten Exemplarisch für Heiner Müllers Umgang mit Mythen wird im folgenden Abschnitt Müllers Medea-Rezeption betrachtet. Medea wird auch im 20.Jahrhundert in den verschiedenen Facetten ihrer Rezeption meist als Charakter aus der griechischen Mythologie erkannt und nicht selten wird ihr Handeln als Prototyp eines „grausamen Kindermordes“ verstanden. Dies ist der Fassung des Euripides zuzuschreiben welche richtungsweisend für die europäische Rezeptionsgeschichte ist. Im Gegensatz zu anderen antiken Versionen tötet Medea in Euripides’ Version ihre Kinder selbst und prägt so das Bild der „Kindermörderin“18 (Kenkel 4). Es folgen über verschiedene Jahrhunderte hinweg zahlreiche Darstellungen in Literatur und Bildender Kunst mit unterschiedlichem Fokus, worunter sich auch einige prominente dramatische Bearbeitungen, wie die Heiner Müllers, befinden. Darüber hinaus interpretierten Vertreter der feministisch geprägten Wissenschaft die Thematik als Deckerinnerung für den mutmaßlichen Niedergang eines Matriarchats, welches dem Patriarchat vorausging (Ullrich). In der Psychologie wurde außerdem in Bezug auf das individuelle Unterbewusstsein die These eines Medea-Komplexes als Pendant zum Ödipus-Komplex aufgestellt (Stern19). Müller griff den Medea-Stoff mindestens dreimal auf und zwar in Medea-Kommentar (1972), Medea- Spiel (1974) und Medea-Material (1948-82) (Ullrich 872). Mit Verkommenes 18 Interessant ist dabei die These, dass Euripides seinerzeit von den Korinthern bestochen worden sein soll, um in seinem Drama nicht die Korinther, wie in anderen Prätexten der Fall, die Kinder töten zu lassen (Ullrich 872). 19 Stern, Edward S. “The Medea Complex: the Mother's Homicidal Wishes to her Child”. BJP 1948, 94:321-331. 58 Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten, das 1981/82 vollendet und veröffentlicht wurde (Ullrich 878), erlangte er internationale Bekanntheit (Spreng 2013). Die Uraufführung fand am 22. April 1983 in Bochum statt (Spreng). Als Bezugstexte sind die Medea-Bearbeitungen von Euripides, Seneca, Jahnn und Grillparzer zu identifizieren (Huller 215; 224). Der Text ist symbolisch sehr dicht und enthält Anspielungen auf vielen Bedeutungsebenen, die einem ungeübten Leser unverständlich bleiben oder entgehen können. Er ist in zeitgenössischem Deutsch verfasst, folgt jedoch nicht den gängigen Regeln der Verschriftlichung, da er zum Beispiel keine Satzzeichen enthält. Der Leser muss sich diese denken, was den Text schwer lesbar macht. Durch die Auslassung von Satzzeichen wird die Ambivalenz des Textes erhöht und ein Spielraum für die Imaginationsprozesse des Lesers geöffnet. Im Falle einer Aufführung bedarf der Text in hohem Maße der Interpretation eines Regisseurs, was auch die Anmerkung Heiner Müllers, die dem Stück angehängt ist, kaum vereinfacht. Zudem werden verschiedene Handlungsebenen vermischt und müssen zunächst entwirrt werden. Sie tragen jedoch alle zum Gesamteindruck, zur Impression, bei. Der Text ist in Versform angeordnet. Es fällt auf, dass bestimmte Zeilen eingerückt sind. Einige Sätze und auch kürzere Sinneinheiten sind in Form von Enjambements künstlich unterbrochen. Dies springt jedoch auf Grund der fehlenden Satzzeichen nicht bei der ersten Anschauung, sondern erst beim gründlichen Lesen, ins Auge. Dieser künstliche Bruch von Sätzen und Satzfragmenten, der sich häufig im Genre der Lyrik findet, verweist auf die visuelle Komponente des Textes, die bei der Sinnerzeugung unterstützen kann. In Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten, welches formal und inhaltlich eine Gliederung in die drei Teile (1) Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten (2) Medeamaterial Landschaft mit Argonauten und (3) Landschaft mit Argonauten 59 aufweist, unterscheidet sich der Umgang mit den mythischen Stoffen je nach Textteil; es sind sowohl entmythisierende als auch remythisierende Elemente zu finden. Der erste Teil Verkommenes Ufer schildert eine Uferlandschaft, in der Abfall – beispielsweise Kondome – die Beschreibung eindeutig in der Moderne verortet, und weist nur vergleichsweise wenige im Text verstreute Wortübernahmen und Anspielungen auf den antiken Medeamythos vor. Beispiele für solche Wortübernahmen von Begriffen aus der Mythenrezeption sind „Argonauten“, „Kolchis“ und „Argo“ (Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten 73). „Auf dem Grund aber Medea den zerstückten Bruder im Arm“ stellt hingegen eine leicht zu erkennende, aus einer Wortsequenz bestehende, Anspielung dar (ibid, 74). Es werden die Landschaft eines Seeufers in Deutschland und das Leben in einer Großstadt beschrieben Zusätzlich gibt es eine zweite Ebene, auf der sich ein nicht näher benanntes oder beschriebenes Paar in rohen Wortfetzen unterhält und zwischen den Zeilen „handelt“: „Aber du musst aufpassen ja ja ja ja ja“ (ibid.73). Die Schilderung erfolgt in knappen, derben Sätzen ohne „mythisches Beiwerk“ – der sexuelle Akt an sich kann jedoch als eine menschliche Grundsituation aufgefasst werden, welche zum typischen Fundus mythisch inspirierter Motive zählt. Interessant ist, dass diese Grundsituation des Reproduktionsakts durch das Element des Präservativs („FROMMS“) bedroht wird, das den Zyklus der Schöpfung neuen Lebens unterbindet. Medeamaterial Landschaft mit Argonauten, der zweite Teil des Textes, ähnelt einem Ausschnitt aus einem klassischen Drama. Er enthält Dialoge, und die sprechenden Personen sind durch Name und Aussage eindeutig als Medea und Jason, die Protagonisten des klassischen antiken Dramas, identifizierbar. Sogar die Amme findet Erwähnung/hat einen Auftritt/tritt auf (ibid. 74-80). Der gebildete Leser erkennt hier die Charaktere aus Euripides Medea-Entwurf. 60 Mythische Elemente sind in diesem Textteil somit schon auf einer oberflächlichen Ebene sofort auszumachen und erzeugen einen stark remythisierenden Eindruck. Es findet ein Streitgespräch zwischen Medea und Jason statt, gefolgt von einem Monolog, in dem Medea Jason anklagt. Dieser Monolog wird im dritten Teil Landschaft mit Argonauten in abstrakterer Form weitergeführt und mit Elementen aus dem ersten Teil vermischt, welche Anspielungen auf eine zeitgenössische trostlose Wirklichkeit darstellen. Mythische Elemente und banale Motive werden verbunden. Die Mytheme aus Euripides Medea werden verallgemeinert und mit geschichtlichen Beispielen und Erfahrungen in einer modernen technisierten Lebenswelt eingereiht und verflochten. „Werbespots“ (ibid. 81) überlagern sich mit mythischen Anspielungen wie „Im Regen aus Vogelkot Im Kalkfell“ (80). Das letztgenannte Zitat ist ein intertextueller Verweis auf das Bild des Prometheus in Heiner Müllers Stück Zement20 (Eke 223). In diesem Stück ist Prometheus an den Felsen im Kaukasus gefesselt und dort dem Fressen und Kot des Adlers dreitausend Jahre lang schutzlos ausgeliefert. In dieser Zeit wird seine Haut vom Kot und vom Abrieb des Kalkfelsens weiß. Er trägt ein „Fell“ aus Kalk und ist kaum mehr vom Felsen zu trennen. Die Parallelisierung zeitgenössischer und mythischer Motive, die anhand von Beispielbeschreibungen vorgenommen ist, kann der Leser oder Zuschauer auf eine abstrakte Ebene transformieren. Auf dieser abstrakteren Ebene wird dann der Eindruck menschlicher Grunderfahrungen wie Geburt und Tod hervorgerufen. So erlangen die Mytheme zeitlose Gültigkeit und weisen einen Gebrauchsswert in Bezug zu Geschehnissen aus dem 20.Jahrhundert auf. In allen Textteilen von Heiner Müllers Medea-Variation sind remythisierende sprachliche Hinweise auszumachen, zum Beispiel der Verweis auf Rituale, insbesondere Opferrituale. 20 Müller, Heiner. Zement: (nach Gladkow). Berlin: Henschelverlag Kunst u. Gesellschaft, Abt. Bühnenvertrieb, 1974. Print. 61 Mythentheoretiker wie Eliade vertreten die These, dass im Ritual der Mythos reaktiviert und gelebt wird (Eliade 27). Sigmund Freud sieht im Opfer eine reglementierte und stilisierte Wiederholung eines unterdrückten Urvorgangs21. Diese besondere Beziehung zwischen Mythos und Ritual ist in Müllers Bearbeitung der Medeathematik besonders prägnant. Einerseits spricht und reflektiert die Protagonistin über verschiedene Rituale, wie Opferrituale (Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten 76) und Heiratsrituale (77; 78). Häufig verwendet Müller zudem Wörter aus dem Wortfeld „Blut“ und „Opferritus“, beispielsweise wenn Medea fragt: „Willst du mein Blut trinken“ (73, 75). In diesen Referenzen auf Opferriten kommt eine spezifische archaische Tauschrationalität zum Ausdruck, so auch in Medeas Aussagen/Worten: „Du bist mir einen Bruder schuldig“ oder „Nimm Jason was du mir gegeben hast“ (77). Die Betonung chthonischer Elemente in Erzählungen bewirkt ebenfalls einen remythisierenden Effekt (Horn 79) und springt auch in Müllers Medeabearbeitung ins Auge.Ein Beispiel für die Betonung der zyklischen Dimension im Verhältnis zwischen Tod und Geburt ist folgender Satz „Kinder ausstoßend in Schüben Gegen den Anmarsch der Würmer“. Hier ist der Hinweis auf Geburt und Reproduktion direkt verknüpft mit dem Prinzip der Vergänglichkeit und des Todes. Durch die Verwendung der Präposition „gegen“ wird zusätzlich auf Notwendigkeit dieses Prinzips hingewiesen. Zudem werden die Aspekte des chthonischen Prinzips nicht abstrakt, sondern durch konkrete Bilder beschrieben. Vergänglichkeit wird durch das Bild der herannahenden Würmer, die zur Zersetzung einer Leiche und somit zur Nutzbarmachung der unbelebten Natur für andere lebendes Organismen führen, beschrieben. Diese bildliche Komponente ist laut Horn ein weiterer starker Verweis auf die mythische Sprachverwendung. 21 Auf der unzivilisierten Entwicklungsstufe der Menschheit ermorden demnach die Söhne der „Urhorde“ im Affekt ihren Vater. Dieser Mord wird später durch verschiedene Verbote und Tabus, wie das Inzesttabu, verhindert. Die Unterdrückung des Mordtriebes führt jedoch auch zu einer neurotischen Gesellschaft. (Freud, Totem und Tabu 376) 62 Die zentrale Rolle/Wichtigkeit der bildhaften und vor allem symbolischen Dimension fällt unter das Muster der „Remythisierung“, da der Mythos als hochkomplexes Symbolisierungssystem aufgefasst werden kann (Horn 22; Blumberg 108). Darüber hinaus dienen Mythenbilder einer Gruppe als „Reservoir an exemplarischen Erzählungen, Bildern und Symbolen“, welches im kollektiven Gedächtnis der Gruppe existiert (19). In Müllers Medeadaptation äußert sich diese Verbindung in zweifacher Weise. Zum einen setzt Müller intensiv bildhafte sprachliche Beschreibungen ein und evoziert Bilder, zum anderen verweist der Aufbau des Werkes, der an ein dreigliedrieges Bild erinnert, auf die enge Beziehung zwischen Bild und Mythos. Die Gliederung Heiner Müllers Texts in die drei Teile (1) „Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten“, (2) „Medeamaterial Landschaft mit Argonauten“, (3) „Landschaft mit Argonauten“ weist entweder auf das bildliche Prinzip eines Triptychons hin oder stellt eine Variante des literarischen Tableaus22 dar. Der Text soll so gelesen werden, wie Gemälde betrachtet werden. Sie wirken unmittelbar, ohne vorher einer rationalen Überprüfung standhalten zu müssen. An anderer Stelle akzentuiert Müller, dass Mythen auf diese Art eine grenzüberschreitende Kommunikationsmöglichkeit darstellen. Er betont den Wirkungsradius von Mythen, wenn er äußert: „Mythen sind [...] ein Esperanto, eine internationale Sprache, die nicht mehr nur in Europa verstanden wird“ ((D) 321). Ein besonderes Anliegen ist ihm, auf den Erinnerungswert mythischen Denkens und seiner Ausdrucksformen hinzuweisen: „Mit dem Horizont vergeht das Gedächtnis der Küste“ (Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten 80). Durch die Transformation von Information auf eine bildliche Ebene können 22 Der Transfer des Tableaus aus der Malerei in die Literatur geht auf die Dramenform Diderots zurück. Es stellt das szenische Innehalten der Schauspieler im Verlauf einer Handlung dar. Die Darstellung durch die Tableautechnik bezeichnet Diderot als erkenntnistheoretisches Modells (Graczyk 83ff) 63 Menschen sich auch traumatischer Erlebnisse erinnern. Die Erinnerung wird als Mythos modifiziert, kann jedoch weiterhin bestehen und ist somit rationalen Erklärungsmustern überlegen, da diese zur Erinnerungs-Verweigerung des Menschen führen. Müller betont in diesem Zusammenhang die psychologische Bedeutung von Mythen im Umgang der Menschen mit dem Tod. Mythen unterstützen Menschen dabei, sich zu erinnern und sich durch die Abgrenzung von Vergangenem als Individuum bewusst zu werden. Heiner Müller ist der Meinung, dass Mythen Grundsituationen menschlicher Interaktion in ihrem sozialen Gefüge beschreiben und sich deswegen zum Aufzeigen von Missständen eignen (Wieghaus 63). In Müllers Drama treten die modernen technisierten Lebenswelten des 20.Jahrhunderts, die im ersten und im dritten Teil des Dramas beschrieben werden und die mythische Erzählebene, die im Mittelteil Medeamaterial ausgeführt wird, in Resonanz. Diese Rückbindung aktueller Themen an die Zeiten-unabhängige Dimension von Mythen verwendet Müller, um Zeit- und Gesellschaftskritik zu äußern. In Übereinstimmung mit klassischen Mythen transzendiert er weltliche Erlebnisse und Erscheinungen und kontrastiert diese Entrückung gleichzeitig mit Banalisierungen. Dieses komplexe Verhältnis von mythischer Ebene und Alltagsgeschehen zeigt sich zum Beispiel in der Beschreibung des „verkommenen Ufers“: „Die zerrissenen Monatsbinden Das Blut der Weiber von Kolchis“ (Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten 73). Mythos als kollektiver Erfahrungsgrund in Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten In Heiner Müllers Stück werden mythische Elemente auf verschiedenen Ebenen des Textes eingesetzt. Die Bildebene steht bei Müllers Anwendung mythischer Elemente im Vordergrund. 64 Die Reihung verschiedener bildhafter Vokabeln erzeugt auf der Ebene des Satzes und des Absatzes eine Bildergeschichte, wie sie vergleichbar ist mit der gemalten Darstellung des Leidenswegs Christi in katholischen Kirchen. Müller verwendet ein symbolisches Vokabular, mit welchem er an den Assoziationsautomatismus und die emotionale Resonanz des Rezipienten appelliert. Diese Variante einer durch Bilder getragenen Geschichte zielt darauf ab, die Erzählung einem Personenkreis näher zu bringen, der literarisch nicht gewandt ist – so wie es auch die bildliche Darstellung in den Kirchen der analphabetischen Schicht von Bauern und Arbeitern ermöglichen sollte, die biblische Geschichte nachzuvollziehen. Die symbolische Bildsprache in Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten eignet sich besonders, um breitere Bevölkerungsschichten, unabhängig von ihrem Bildungsniveau und über sprachliche Begrenzungen hinweg, anzusprechen, da Mythen nach Müllers Auffassung „eine internationale Sprache“ sind. Diese Art des Einsatzes von Bildern findet sich sowohl in Müllers Lehrstücken, als auch in späteren Stücken. Nachdem sich Müller vom Lehrstück abwendet, setzt er solche Bilder auf der Ebene des gesamten Stücks ein. Bei dieser Technik werden Bildfetzen nebeneinander gestellt und erzeugen ein Gesamtbild. Eine synchrone Betrachtung ist erforderlich, um die Impression dieses Gesamtbildes beim Rezipienten entstehen zu lassen. Die Bilder müssen nicht einzeln und im Verhältnis zueinander chronologisch gelesen werden. In Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten werden Bilder sowohl auf der Makroebene als auch auf der Mikroebene verwendet. Die Bedeutung der Makroebene zeigt sich bereits im Aufbau des Stücks als Triptychon. Erster Teil „Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten“ Der erste Teil des Textes, betitelt mit „Verkommenes Ufer“, ist die Beschreibung einer verschmutzten Landschaft in der „Moderne“. Diese Beschreibung wird durch eine Textmontage 65 vorgenommen (Schödel 41). Die Landschaft wird an einem Seeufer bei Straußberg in der Nähe von Berlin lokalisiert. Der zeitliche Kontext der Moderne ergibt sich aus dem erwähnten Müll, zum Beispiel „Keksschachteln“, „Monatsbinden“, Zigarettenschachteln („CASINO“) und Kondome („FROMMS“), hier mit dem Markennamen umschrieben (Müller 73). In direkter Rede sprechen Stimmen, die nur durch ihren Inhalt Aufschluss über den Sprecher geben, da keine Namen genannt werden. Die direkte Rede sowie einige andere Satzfragmente sind in Großbuchstaben geschrieben. Die Sätze geben einen verrohten Dialog zwischen zwei Personen, die Geschlechtsverkehr („ACT“) haben, wieder. Diese Handlungsebene ergibt sich durch die Verdichtung der Aktion in den Metaphern „FrommsAct“ und „Casino“. Im ersten Textabschnitt gibt es nur wenige Indizien dafür, dass es sich um eine Interpretation des Medeastoffes handelt. Als Hinweis auf den Medeastoff dienen die Textfragmente „flachstirnige Argonauten“, „Das Blut/ Der Weiber von Kolchis“ und „bis ihm die Argo den Schädel zertrümmert“ (73). Diese Hinweise auf eine Rezeption des Medeamythos fügen sich in ihrer Bedeutung in die Handlung bzw. landschaftliche Beschreibung in der Gegenwart ein und bilden mit ihr eine inhaltliche Symbiose, wie beispielsweise: „Die zerrissenen Monatsbinden Das Blut/der Weiber von Kolchis“ (73). Die genannte Wortsequenz scheint zunächst eine Banalisierung zu sein, die entmythisierend wird, da ein mythisches Moment in die Moderne transportiert wird. Lässt der Leser die Worte jedoch als Symbole auf sich wirken, kommt es zum gegenteiligen Effekt. Sowohl „Monatsbinden“ als auch „Blut“ sind in kulturellen Kontext symbolisch stark aufgeladen. „Monatsbinden“ rufen häufig hässliche Gefühle und die Assoziation von „Schmutz“ hervor, obwohl sie auch den natürlichen Zyklus der Frau und somit Fruchtbarkeit und Erneuerung symbolisieren. „Blut“ als Lebenssaft ist darüber hinaus mit Lebenskraft, aber auch mit Sterblichkeit in Verbindung zu bringen. Hier wird auf menschliche Grunderfahrungen 66 angespielt, indem den Worten als Symbolen Raum gegeben wird, ihre assoziative Kraft zu entfalten. Abgesehen vom Seeufer wird noch ein weiteres Szenario beschrieben, und zwar das Bild des Alltags in den Vorstädten: „Sie hocken in den Zügen Gesichter aus Tagblatt und Speichel“. In diesem Zusammenhang werden Männer als triebgesteuert und Frauen als „Abflußrohre“ beschrieben (73). Die Unausweichlichkeit des Kreislaufs von Geburt und Tod wird angesprochen: „Kinder ausstoßend in Schüben gegen den Anmarsch der Würmer“ (73). Diese Erwähnung chtonischer Aspekte lässt die mythische Dimension der Bedeutungsebene anklingen und kritisiert den Umgang mit der Vergänglichkeit. Die Menschen verdrängen die Unausweichlichkeit des Todes und erinnern sich nicht der Toten: „Die Toten starren nicht ins Fenster/ Sie trommeln nicht auf den Abort/ Das sind sie Erde von den Überlebenden beschissen“ (74). Laut Heiner Müller ist diese Verdrängung des Todes eines der großen Probleme der Zeit, in der er lebt (Jenseits Der Nation 23). Eine solche Betonung des „gestörten Verhältnisses“ zwischen Leben und Tod findet sich auch bei Adorno und Horkheimer. In der Dialektik der Aufklärung heißt es: „Das gestörte Verhältnis zu den Toten - daß sie vergessen werden und einbalsamiert – ist eines der Symptome fürs Kranksein der Erfahrung heute“ (Adorno/Horkheimer 243). Unter diesem „Kranksein“ wiederum verstehen Adorno und Horkheimer das „gestörte“ Verhältnis der Individuen zu sich selbst: „An den Toten lassen die Menschen die Verzweiflung darüber aus, daß sie ihrer selbst nicht mehr gedenken“ (ibid. 244). Müller dehnt der Begriff „Tote“ jedoch auch auf die Lebenden aus, die ausgegrenzt und somit „tot“ gemacht werden: „In einer Gesellschaft in der die Toten oder die Ahnen keinen Platz haben, werden die sozial Schwachen, also die, die nicht funktionieren, zu Müll, denn sie stören 67 den reibungslosen Ablauf der ewigen Gegenwart“ (Jenseits Der Nation 24). So knüpft Müller an seine These dann auch in Verkommenes Ufer mit der Referenz auf die ausgrenzende und menschenverachtende Ideologie der NS-Zeit an, indem er historische Fotos von durch die Wehrmacht erhängten Desserteuren beschreibt, auf denen Schilder mit der Aufschrift „Ich bin ein Feigling“ zu erkennen sind: „EINIGE HINGEN AN LICHTMASTEN ZUNGE HERAUS/ VOR DEM BAUCH DAS SCHILD ICH BIN EIN/ FEIGLING“ (Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten 74; Schödel 41; Bock 289). Dies ist die erste Stelle im Text, in der Heiner Müller explizit auf Gräueltaten im Krieg anspielt. Deutlich zu erkennen ist eine kritische Haltung gegenüber dem Umgang mit den Toten sowohl in Friedenszeiten als auch im Krieg. Müller parallelisiert „Ausschwitz“, einen Begriff den er häufig als Synonym für den Holocaust an sich verwendet, mit anderen Erscheinungen von Ausgrenzung (Jenseits Der Nation 27), was auch an der Platzierung von Verkommenes Ufer am Strausberger See erkenntlich ist, denn (wie Müller sagt): „Bei Strausberg hat die letzte große Panzerschlacht des zweiten Weltkriegs stattgefunden.“ (Krieg ohne Schlacht 319). Für Heiner Müller ist nicht Krieg per se etwas Grauenhaftes, sondern der Umgang mit diesem. Ihm geht es deswegen um das Erinnern, vor allem um das Gedenken der Toten: „Das alles sind Instrumente eines Programms zur Auslöschung von Gedächtnis, Erinnerung und Erfahrung“ (Jenseits Der Nation 21). Mit einer Referenz auf Medea als Brudermörderin und Zauberin endet der erste Teil: „Auf dem Grund aber Medea den zerstückten/ Bruder im Arm Die Kennerin/ Der Gifte“ (Müller 74). Diese Verweise auf den „zerstückten Bruder“ und die „Gifte“ charakterisieren Medea als Hexerin mit der magischen Kraft Leben und Tod zu geben und untermauert eine chtonische Deutungsweise ihres Handelns. Medea ist in ihrer Tat nicht von menschlichen Emotionen geleitet und an die allgemeinen Gesetze der Gesellschaft gebunden, sondern kann die Tötung 68 ihres Bruders und auch die folgende Tötung ihrer Kinder an mythischen Maßstäben messen. Sie begeht keinen „Mord“ an ihrem Bruder oder ihren Kindern. Müller distanziert sich hier von einer Humanisierung Medeas wie sie später Christa Wolf in ihrem Roman Medea: Stimmen aus dem Jahre 1996 zugeschrieben wird. Zudem lässt diese Formulierung vermuten, dass Medea der „Grund“ für den beschriebenen Zustand der verödeten Lebenswelt ist. Der Leser erwartet eine Erklärung für diese These. Zweiter Teil „Medeamaterial Landschaft mit Argonauten“ Es folgt der zweite Teil des Triptychon „Medeamaterial Landschaft mit Argonauten“, in dem Heiner Müller die Bezugstexte des Mythos in Erinnerung ruft (Schödel 41). Es sprechen drei Personen: Medea, Amme und Jason. Zunächst scheint Medea gegenüber der Amme ihre Enttäuschung über Jason auszudrücken, der sich einer neuen Frau zugewandt hat (Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten 75). MEDEA Jason Mein Erstes und mein Letztes Amme Wo ist mein Mann AMME Bei Kreons Tochter Frau Mit folgender Feststellung endet die Einführungssequenz zwischen Medea und Amme und Jason tritt auf (75). MEDEA Wie lebst du in den Trümmern deines Leibs Mit den Gespenstern deiner Jugend Amme Bring einen Spiegel Das ist nicht Medea Jason Medea hört an diesem Punkt auf, Medea zu sein. Sie erkennt sich selbst nicht mehr als die, die sie war. 69 Es folgt ein Dialog zwischen Medea und Jason, indem Medea ihn anklagt. Sie ist nun in der Rolle der Frau. Jason sagt: „Was warst du vor mir Weib“, und Medea antwortet: „Medea“. Medea fordert von Jason den Bruder zurück: „Du bist mir einen Bruder schuldig“. Jason kontert: „Zwei Söhne gab ich dir für einen Bruder“ (75). Diesen „Tausch“ stellt Medea jedoch in Frage: „Du Mir“. Immer wieder tauchen Ausdrücke auf, die an archaische Rituale erinnern: „Willst du mein Blut trinken“ oder „Aus ihren Eingeweiden einen Kranz“ (75). Medea charakterisiert sich selbst als „Sklavin“, „Werkzeug“ und „Hündin“ (75). Ausdrücke der Unterdrückung werden ihr zugeschrieben: „Mein Eigentum die Bilder der Erschlagnen Die Schreie der Geschundnen mein Besitz“ (76). Durch Jason wird Medea in der Rolle einer unterwürfigen Frau „belebt“. Die eine Medea stirbt, und eine andere Person ersteht: Die Asche deiner Küsse auf den Lippen (…) Dein Atem ein Gestank aus fremdem Bett Ein Mann gibt seiner Frau den Tod zum Abschied Mein Tod hat keinen anderen Leib als deinen (76). Die Figur der Frau muss wieder sterben, wenn der Mann sie aufgibt: „Bist du mein Mann bin ich noch deine Frau“. Die Person Medea erhält jedoch ihre Sinne zurück: „Verrat der mir die Augen wiedergibt/ (…)/ Ohren wieder/ Zu hören die Musik“. Auch den Mord an ihrem Bruder kann Medea wieder sehen: „Und meinen Bruder Meinen Bruder Jason“ (76). Der Mord an dem Bruder wird direkt mit den Kindern von Jason und Medea in Verbindung gebracht. Medea schlägt einen Tausch vor: „Willst du sie wiederhaben deine Söhne/ Du bist mir einen Bruder schuldig“ (77). Der Begriff „Hündin“, den Medea vorher auf sich selbst angewendet hat, in Assoziation mit sich als rechtlose Person, wird nun zur Beschreibung der Korinther verwendet: 70 „Wen liebt ihr mehr Den Hund oder die Hündin/ (…)/ Und seiner neuen Hündin und dem König/ der Hunde in Korinth hier ihrem Vater“ (77). Medea charakterisiert sich selbst nunmehr ab Seite 77 vermehrt als „Barbarin“: „Daß er die Mutter wegtritt die Barbarin/ Weil euren Weg nach oben sie beschwert/ (…) /Was klammert ihr euch noch an die Barbarin“ (77). Die Zivilisation besteht also aus Hunden, und ihr gegenübergestellt finden sich die Barbaren. Auch das Verhalten der Kinder wird durch „hündische“ Metaphern ausgedrückt: „Schlagt eure Zähne in mein Herz“. Der Begriff „Barbarin“ für Medea lässt nicht nur den Aspekt der Fremde anklingen, sondern steht auch im Kontrast mit „Zivilisation“ (Günther der Bruyn- Christoph Hein- Heiner Müller. Drei Interviews 61). Medea, die den Mythos verkörpert, reflektiert über sich selbst auf einer Metaebene, wobei sie einen rationalistischen Blickwinkel einnimmt. In der Figur der Medea fließen Mythos und selbstreflektiertes Subjekt in eins. Hier zeigt sich, dass Müller nicht das „Barbarische“ als grausam auffasst, sondern das Zivilisierte, da in der barbarisch-mythischen Weltauffassung immerhin ein Umgang mit den Dramen des Lebens stattfindet. Grausamkeiten werden auf eine bildliche Ebene transformiert und mit mythischem Sinn versehen. Beides fehlt aber in der modernen Zivilisation, als deren Stellvertreter in Müllers Stück Jason angesehen werden kann. Das Brautkleid kristallisiert sich als wichtiges Motiv heraus. Zunächst wird es mit Liebe und mit Haut assoziiert: „Mein Brautkleid nimm als Brautgeschenk (…)/ (...)/ Das Kleid der Liebe einer andern Haut“ (77). Zu dieser positiven Wahrnehmung gesellt sich jedoch schnell ein düsterer Beigeschmack: „Gestickt mit Händen der Beraubten/ Aus Dem Gold von Kolchis und gefärbt mit Blut/ Vom Hochzeitsmahl aus Vätern Brüdern Söhnen“ (78). Auffällig ist die zweite Verwendung der Präposition „aus“. Sie ruft die Assoziation eines religiösen Rituals wie der christlichen Kommunion wach, bei der symbolisch der Leib Christi verspeist wird. Bei diesem 71 Opfermahl sind die Verspeisten jedoch ausschließlich die männlichen Rollen „Vater, Bruder, Sohn“. Das Einstreuen von Metaphern in Müllers Stück funktioniert wie in einem Gemälde, indem eine Farbe zunächst als Tupfer auftritt und dann eine größere Fläche bedeckt. So verhält es sich auch mit der Metapher des Brautkleides; ihre Bedeutung schwillt an. Es findet eine Personifizierung statt: „Das Brautkleid der Barbarin ist begabt/ Mit fremder Haut sich tödlich zu verbinden“ (78). Animalische Metaphern gesellen sich als Beschreibung hinzu: „Die Braut ist jung wie glatt spannt sich das Fell“ (78). Medea überträgt mittels des Kleides ihr Schicksal auf das der neuen Braut: „Auf ihren Leib jetzt schreibe ich mein Schauspiel/ (…)/Das Brautkleid der Barbarin das Brautgeschenk/ (…)/Das Brautkleid der Barbarin feiert Hochzeit“ (78). Medea kommentiert die Übergabe des Brautkleides und das In-Flammen-Aufgehen der Braut mit Rückgriff auf Theatermetaphern: „Mein Schauspiel ist eine Komödie Lacht ihr“ (79). Ihr `Schicksal´ wird durch „Schauspiel“ substituiert und somit als Menschengemachtes dargestellt. Medea beginnt nun, mit ihren Kindern und über sie zu sprechen, die jedoch nie antworten. Sie nennt die Kinder zunächst „kleine Verräter“ (79), deren sie sich vor allem emotional entledigen möchte: „Aus meinem Herzen schneiden will ich euch“. Sie fordert ihre Identität zurück: „Gebt mir mein Blut zurück aus euren Adern“. Den Tod der Kinder kündigt sie als eine Gabe an: „Der Tod ist ein Geschenk Aus meinen Händen sollt ihr ihn empfangen“ (79). Allmählich wird ein Kontrast zwischen Animalischem und Humanem aufgebaut, wobei das Animalische als das von Medea Zurückbegehrte dargestellt wird (79). Mit diesen meinen Menschenhänden Ach Wär ich das Tier geblieben das Ich war Eh mich ein Mann zu seiner Frau gemacht hat 72 Medea die Barbarin jetzt verschmäht Mit diesen meinen Händen der Barbarin Händen zerlaugt zerstickt zerschunden vielmal Will ich die Menschheit in zwei Stücke brechen Und wohnen in der leeren Mitte Ich Kein Weib Kein Mann (…) Die „Frau“ wird hier als kulturelle Rolle entlarvt. Medea kehrt zurück zu einem Ich jenseits der Geschlechter; sie kehrt zurück in „die leere Mitte“. Zudem enttarnt sie ihre Kinder als „Schauspieler“, worunter ein Wechsel – oder sogar eine falsche Identität verstanden wird: „Schauspieler seid ihr Lügner und Verräter/ Bewohnt von Hunden Ratten Schlangen seid ihr“ (79). Schauspieler haben laut Müller die Aufgabe, in sich „Leere“ herzustellen, um ihre Rolle verkörpern zu können (Günther der Bruyn- Christoph Hein- Heiner Müller. Drei Interviews 57). Sie sind also zwielichtig, da sie nicht ihre eigene Identität darstellen, sondern zu Gefäßen des Schauspiels werden. Medea unterstellt ihnen an dieser Stelle, zu Gefäßen ihres Gegners geworden zu sein. Der Wahnsinn ist Medeas wahres und unverschleiertes Ich. Die `Anderen´ oder die „Schauspieler“ sind blutlose, d.h. leblose, Puppen: „Habt ihr kein Blut mehr“ (Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten 80). Dieser zweite Teil endet mit Jasons Ausruf „Medea“/, und mit Medeas Äußerung/ „Amme kennst du diesen Mann“ – so wird der Teil gerahmt. Der zweite Teil könnte in diesem Sinne als ein Ritual verstanden werden, welches am Anfang durch den Eintritt in die besondere Sphäre, im Mittelteil durch seinen transformativen Charakter und am Ende durch den erneuerten Wiedereintritt in die banale Alltagswelt gekennzeichnet ist. Doch an der Stelle von Jason steht nun Medea, und die Frage, „wo ist mein Mann“ wird in „kennst du diesen Mann“ geändert. 73 Dritter Teil „Landschaft mit Argonauten“ Es beginnt der dritte Teil Landschaft mit Argonauten. In diesem Teil gibt es wie im ersten Teil wieder großgeschriebene Fragmente. Erneut verschmelzen Gegenwart und mythische Handlungsaspekte miteinander. Behandelt werden nun offensichtlich philosophische Fragen nach Identität und Existenz. Dies geschieht einerseits durch direkte Rede in der Form von Monologen eines „Ich“, andererseits durch Beschreibungen einer Landschaft. Außerdem ist wieder kein augenscheinlicher Sprecher zu ermitteln. Hinter dem Ich-Sprecher könnte der Leser entweder Jason oder Medea vermuten. In seiner Anmerkung gibt Müller jedoch einen Hinweis auf die Interpretation, indem er schreibt: „Wie in jeder Landschaft ist das Ich in diesem Textteil kollektiv“ (Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten 84). Das „Ich“ ist also Medea und Jason zugleich. Es stellt die Frage: „Ich Wer ist das“ und kommentiert anschließend: „Ich eine Fahne ein Fetzen ausgehängt Ein Flattern/ Zwischen Nichts und Niemand“. Das „Ich“ wird mit zahlreichen nominalen Zuschreibungen bedacht: „Ich Auswurf eines Mannes Ich Auswurf/ einer Frau Gemeinplatz auf Gemeinplatz Ich Traumhölle“ (80). Das „Ich“ ist wie die Schauspieler eine `leere Hülle´, ein Gefäß dem der Leser oder Zuschauer Inhalt verleihen kann. Die Fragmente in Großbuchstaben versetzen in einen historischen und geographisch lokalisierbaren Kontext: „Mein Grossvater war Idiot in Böotien“ (80). Im Gegensatz zum dramatischen zweiten Teil wird nun wieder eine Landschaft beschrieben, diesmal eine, die mit dem Meer in Verbindung steht. In dieser sind die Menschen Seeleute. Hier besteht die Möglichkeit, das „Ich“ mit den Argonauten, insbesondere mit Jason zu identifizieren23. An dieser 23Dieser Interpretationsmöglichkeit folgt Ullrich, die den dritten Teil als Monolog Jasons und Beschreibung des Lebens Jasons auffasst (880). Sie gesteht jedoch ein, dass er insofern weit über eine einfache Darstellung hinausgeht, als das Leben Jasons exemplarisch für männerdominiertes Leben über Jahrhunderte hinweg steht (Ullrich 881). Ivar Kvistad hingegen deutet das ‚ich‘ hier weiblich. 74 Stelle wird eine Strophe aus La Paloma eine eingeflochten: „SEEMANNSBRAUT IST DIE SEE“ (Müller 80, Schödel 41). Durch das Liedzitat gesellt sich zu der visuellen Komponente des Stücks auch eine imaginäre auditive Komponente. Vor dem „inneren Ohr“ hört man das Lied, und es entsteht ein audiovisueller Gesamteindruck. Diese Seefahrt führt zum `Stranden in einer Neuen Welt´: „Ich meine Landnahme“ (80). Die neue Welt ist jedoch eine trostlose, was unter anderem durch die Wiederholung der Worte „Im Regen aus Vogelkot“ sichtbar wird. Diese Phrase wirkt nicht nur durch die Assoziation von Einsamkeit und Schmutz ernüchternd, sondern stellt auch ein gedankliches Zitat auf die Situation des Prometheus in Müllers Drama Zement dar (80). Durch die Anspielung wird das Scheitern der zivilisatorischen Suche nach Erkenntnis ausgedrückt: Prometheus musste am Felsen dafür büßen, dass er den Menschen das Feuer brachte. Gleichzeitig findet in Landschaft mit Argonauten ein „Gang durch die Vorstadt“ statt. Diese Vorstadt liegt in „Trümmern und Bauschutt“ und ist bevölkert von „Zombies“ und „Gespenstern“ (81). Auch der Tod spielt in diesen beiden Szenarien eine wichtige Rolle und taucht als Motiv in Nomen und Verben immer wieder auf: „Mein Tod Im Regen aus Vogelkot“, „geschlachteter Baum“, „Die Toten sagt man stehen auf dem Grund“ (80). Als Kontrast wird zudem das Thema Fortpflanzung aufgegriffen und bewertet. Es spielt einerseits auf die sexuelle Handlung an, wie in den Phrasen „Zoten stacheln das einsame Fleisch Bis der Mann nach dem Mann greift“ sowie „Das Neue Fickzellen mit Fernheizung“ (81), und referiert andererseits auf den Reproduktionsakt im Zusammenhang mit Geburt: „Der Anker ist die letzte Nabelschnur“ (80), „Der Bildschirm speit Welt in die Stube“ (81). Das Zusammenbringen der Elemente von triebhafter, gewalttätiger Sexualität mit Reproduktion deckt sich mit der Darstellung in dem anfangs analysierten Prosagedicht Orpheus gepflügt. Ebenso wie in Orpheus gepflügt wird hier 75 auf die Bedrohung durch den Ausbruch von Gewalt und den daraus resultierenden Schmerz hingewiesen. In Landschaft mit Argonauten wird dies mit den Worten „Eine Frau ist der gewohnte Lichtblick/ ZWISCHEN DEN SCHENKELN HAT/ DER TOD EINE HOFFNUNG“ zueinander in Beziehung gesetzt (81). In diesen Sätzen verschmelzen die beiden Aspekte und werden in einen übergeordneten chthonischen Zusammenhang gebracht. Diese Verbindung zur mythologischen Ebene zeigt sich auch in dem Satz: „Der geschlachtete Baum pflügt die Schlange das Meer“ (80), welcher als Anspielung auf mythologische Motive gesehen werden kann. Ein solches wäre zum Beispiel das nordische Endzeitszenario Ragnarök, bei dem der göttliche Held Thor mit seinem magischen Hammer gegen die Midgardschlange kämpft. Am Ende töten sich die beiden gegenseitig, wobei Thor die Midgardschlange erschlägt, die ihn zuvor jedoch mit tödlichem Gift gebissen hat. Die Schlange kann im Hinblick auf die biblische Geschichte auch als Verführerin zum ersten Sündenfall gedeutet werden. Die im dritten Teil beschriebene Welt wandelt sich im Laufe der Beschreibung von einer feindseligen Küste hin zu einem unheimlichen Endzeitszenario während oder nach einer Katastrophe. Viele Textfragmente deuten an, dass diese Katastrophe ein Krieg ist: „Erinnerung an eine Panzerschlacht“, „Verschleiß ist eingeplant Als Friedhof“. Die zeitlichen Ebenen verwischen: Die Katastrophe des Krieges steht entweder bevor („ist eingeplant“), passiert gerade („Was bleibt aber stiften die Bomben“) oder ist bereits vorbei („Erinnerung“; „Zwischen Trümmern und Bauschutt“)( 81). Vielleicht handelt es sich jedoch auch um eine andere Katastrophe: „Zwischen zerbrochenen Statuen auf der Flucht Vor einer unbekannten Katastrophe“ (81). Die Worte „zerbrochene Statuen“ können als Metapher verstanden werden, welche die Ratlosigkeit der heutigen Gesellschaft im Umgang mit den vorhandenen Problemen 76 ausdrückt. Zwar sind alte Ideale und Vorbilder „zerbrochen“, sie sind jedoch nicht durch neue ersetzt worden. In seiner Autobiographie schreibt Müller, dass diese Zeile und die Aussage „Oder der Jugoslawische Traum“ auf eine persönliche Erfahrung in Belgrad zurückgehen (Krieg ohne Schlacht 321). Die „Schauspieler“ werden zu einer Metapher für austauschbare Charaktere in der Moderne: „Ein Rudel Schauspieler passiert im Gleichschritt“. Diese Charaktere sind gleichgeschaltet und ebenso lebendig wie „Zombies“ (81) oder belebte „Stuhlbeine“ (82). Wieder kombiniert Müller zur Umschreibung mythische („Zombies“) und banale Metaphern („Stuhlbeine“). Die Hundemetapher aus dem zweiten Bild/Teil wird ebenfalls erneut aufgegriffen. Das „Ich“ erkennt sich als „niemand“: „Wortschlamm aus meinem Verlassenen Niemandsleib“, und wirft die Frage nach einem Ausweg aus dieser Situation auf: „Wie herausfinden aus dem Gestrüpp“. Zum „Ich“ gesellt sich die Metapher des Wolfes, die zunächst für das `Fremde´ steht: „Ein Wolf stand auf der Straße als er auseinanderbrach“, und ein Innehalten zur Folge hat (82): „Der Mittag stäubte ihre Asche auf mein Fell“. Aus dem „Hund“ ist der Wolf geworden, eine ursprünglichere und wildere Kreatur, die den Untergang bedeuten kann, die Assoziation „der Mensch ist des Menschen Wolf“ wachruft und gleichzeitig an den mythischen Wolf Fenris aus der nordischen Mythologie erinnert, der eine wichtige Rolle in der letzten Weltenschlacht einnimmt. Aus diesem mythisch anmutenden Bild wird der Leser wieder zurück in einen Bereich zwischen `Wirklichkeit´ und Mythologie geführt, in den Bereich, der `Traumbilder´ wiedergibt – das Kino: „Während der Fahrt hörten wir die Leinwand reißen und sahn die Bilder ineinander stürzen.“ Es folgen einige Anspielungen auf die „Traumfabrik Kino“, in die sich zum ersten Mal im Text auch englische Textfragmente mischen: „Die Wälder brannten in EASTMAN COLOR/ 77 Aber die Reise war ohne Ankunft NO PARKING“ (82). Wie im ersten Teil können diese Metaphern im `Textgemälde´ gleichzeitig naturalistisch und assoziativ betrachtet werden. Die Szenen können als Bilder für Massenproduktion aufgefasst werden. Das Kino schafft es nicht, Sinn zu stiften24. In den Worten „Im Kassenraum würgte Fritz Lang Boris Karlhoff“ (Müller 83) ist zudem ein Verweis auf den Kampf zwischen dem Mädchen-Mörder „M“ (1931), repräsentiert durch den Regisseur Fritz Lang,25 und dem menschengemachten Monster „Frankenstein“ (1931), repräsentiert durch den Hauptdarsteller Boris Karlhoff, versteckt. Das Einstreuen englischer Ausdrücke kann als Kritik am westlichen Kapitalismus und dem mit ihm einhergehenden gedankenlosen Konsum, in der DDR mit den USA in Verbindung gebracht wurde, interpretiert werden. Diese Kritik geht einher mit dem Erinnern an die Opfer von Expansion und Kolonialismus: „ODER DIE GLÜCKLOSE LANDUNG Die toten Neger/ Wie Pfähle in den Sumpf gerammt“ (83). Die Täter oder Konsumenten antworten mit „DO YOU REMEMBER DO YOU NO I DONT“26. Es ist kein Innehalten und Erinnern gewünscht. Hier erlischt auch die Erinnerung an Medeas Geschichte (Schödel 41). Der mythologische Inhalt entgleitet dem Schreiber und zurück bleibt „Lyrik“ (Müller 83). Die Traumbilder zerspringen: „Unser Hafen war ein totes Kino“ (83). Diese Szene wird zugespitzt, und wieder verschmelzen verschiedene Betrachtungsebenen: Das getrocknete Blut Qualmt in der Sonne Das Theater meines Todes 24 Auch diese These findet sich in der Dialektik de Aufklärung (vlg. Adorno/Horkheimer 140 ff) 25Fritz Lang ist außerdem der Regisseur von „Metropolis“, der Dystopie schlechthin. 26 Diese Aussage könnte im deutschen Kontext auch als Hinweis auf die Weigerung, sich der Gräueltaten des dritten Reiches zu erinnern, aufgefasst werden. Die Mittäter wollen sich nicht erinnern. 78 War eröffnet als ich zwischen den Bergen stand (83) Das Bild des in der Sonne verdunstenden Blutes ruft Gedanken an Krieg wach. Gleichzeitig ist es aber auch ein Bild, welches im Opferritual zu finden ist. Die Verdunstung des `Lebenssaftes´ kann als Übergang ins Nicht-Materielle angesehen werden. Der Ausspruch „als ich zwischen den Bergen stand“ scheint den Gedanken wiederzugeben, der schon im zweiten Teil des Stückes durch die Worte „Und wohnen in der leeren Mitte“ formuliert ist (Müller 79), und kann ein Hinweis auf ein Zwischendasein zwischen Mann und Frau, den Extremen, gedeutet werden. Diese mythisch-archaischen Assoziationen werden durch das Bild des Flugzeugs zerstört: „Und über mir erschien das erwartete Flugzeug“. Statt der `Auffahrt ins himmlische Paradies´ wartet am Ende nur das banale Flugzeug auf das Ich. „Diese Maschine war Was meine Großmütter Gott genannt hatten“ (83). Mit diesem Ausdruck wird ein wehmütiger Blick zurück auf die „mythische“ Zeit geworfen, als die Menschen noch an Götter glaubten und der Welt dadurch Sinn verliehen. Diesen Sinn kann die Moderne nicht mehr stiften – sie ist „entzaubert“. Auf der Ebene des modernen Geschehens können die folgenden Zeilen wieder als Kriegsszenario gedeutet werden, bei dem eine Bombe einschlägt: „Der Luftdruck fegte die Leichen vom Plateau“ (83). Fortgeführt wird dieses Szenario durch die Zeilen: „Und Schüsse knallten in meine torkelnde Flucht“ (83). Das Ich flieht vor dem Krieg. Die Flucht vor einer Bombe ist jedoch sinnlos, und für das Ich gibt es somit keinen Ausweg. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass nach Müllers Ansicht die Menschen sich der Moderne nicht mit denselben, auf denen ihr eigenen Paradigmen beruhenden, Mitteln widersetzen können, sondern andere Mittel einer stark ästhetisch zugewandten Dimension wählen müssen, um sie zu überwinden. 79 Es folgt die Beschreibung des Todesmoments: „Ich spürte MEIN Blut aus MEINEN Adern treten/ Und MEINEN Leib verwandeln in die Landschaft/ MEINES Todes“(83). Der Tod ist also eine Landschaft. Auch diese Auffassung erinnert an mythologische Bilder aus Kosmogonien, worin aus einem toten Körper eine neue Welt geschaffen wird27. In den letzten Zeilen wird das Wort „mein“ durch Großschreibung betont. Im Moment des Todes kehrt das Ich zu sich selbst zurück. Durch die großgeschriebenen Worte „IN DEN RÜCKEN DAS SCHWEIN“ wird aus der mythischen und philosophischen Ebene zurück in die Realität der Moderne geführt (83). Dieser Ausruf klingt wie eine grobe Anstachelung, jemanden hinterrücks zu erschießen. Die banale Ebene der kriegsgeprägten, modernen, dystopischen Landschaft endet hier. Müller kommentiert das Geschehen und beendet die Beschreibung mit den Worten: „Der Rest ist Lyrik28“ (83). Die im ersten Kapitel dieser Arbeit dargelegte spezifische Haltung von Müller zur Lyrik kommt hier zu tragen, nämlich die Forderung an Lyrik, sich im Spannungsfeld zwischen Pragmatisierung und „absoluter Kunst“ zu entfalten. An dieser Stelle zeigt sich eine Perspektive Müllers, in der er Lyrik als einzige Möglichkeit ansieht, auf die Schrecken von Kriegszeiten und Missachtung der Menschenwürde zu reagieren. Erneut distanziert er sich hier von Adornos These, dass Lyrik nach dem Schock der NS-Zeit und des Holocausts nicht mehr möglich sei. Zu Gunsten der Wirkung von Kunst favorisiert Müller hier das entrückende Element von Lyrik als Perspektivenwechsel. Er schreibt, wie oben bereits zitiert: „Adornos These ist völlig kapitulantenhaft. Das Gegenteil ist richtig – nach Auschwitz nur noch Gedichte. (…). 27 Ein solcher Weltschöpfungsmythos existiert zum Beispiel in der nordischen Mythologie in den Erzählungen über den zweigeschlechtlichen Riesen Ymir, den die Götter töten, um aus ihm die Welt zu schaffen. 28 Zuvor nimmt der Text durch ein abgeändertes Hölderlin-Zitat bereits auf Lyrik Bezug (Bock 291). Hölderlin schreibt in seinem Gedicht Andenken: „Was bleibt aber stiften die Dichter“. Müller tauscht „die Dichter“ durch „die Bomben“ aus. Beim ihm lautet der Satz „WAS BLEIBT ABER STIFTEN DIE BOMBEN“ (81). 80 Denn Lyrik ist Ausstieg aus der Wirklichkeit. Nur wenn man aus der Zeit aussteigt, kann man auf sie Einfluss nehmen.“ (Jenseits der Nation 43) Am Ende des Medea-Stücks steht die Frage: „Wer hat bessere Zähne/ Das Blut oder der Stein“. Diese Frage kann als Kampf zwischen `Erneuerung´ und `Ewigkeit´ gedeutet werden, wobei „Blut“ für das Leben und für Erneuerung steht, der „Stein“ hingegen für den Tod, das Unbelebte und die Ewigkeit. In Müllers Anmerkung, die an den Text angehängt ist, gibt er Hinweise zur Interpretation und Aufführungsart des Stücks. Er erwähnt, dass im Theater der Tod zu einer „kollektiven Erfahrung“ gemacht werden kann, indem er auf der Bühne dargestellt wird (84). Seine Worte legen auch seine Auffassung einer unausweichlichen Folge des menschlichen Handelns nahe: „setzt LANDSCHAFT MIT ARGONAUTEN die Katastrophen voraus, an denen die Menschheit arbeitet“. Zudem stellt er klar, dass die drei Textteile gleichzeitig zu denken sind, also wie ein bereits angefertigtes Bild: „Die Gleichzeitigkeit der drei Textteile kann beliebig dargestellt werden (84). Mythos als Zivilisationskritik: “flucht vOr einer unbekannten katastrOphe“ „Das mythische Grauen der Aufklärung gilt dem Mythos.“ (Adorno/Horkheimer 46) In Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten nimmt Heiner Müller, wie bereits angemerkt, schon durch die auftauchenden Eigennamen explizit auf den Mythos Bezug. Am wichtigsten scheinen ihm im Mythos demnach die Charaktere „Medea“, „Jason“ als Argonaut und „Amme“ zu sein. Einen Chor als ethischen Kommentar wie bei Euripides gibt es nicht, dafür aber zahlreiche Hinweise im Hinblick auf eine zeitkritische Deutung, die in der Umfelds- bzw. Landschaftsbeschreibung enthalten sind. Zusätzlich zur zivilisationskritischen 81 Deutung der Landschaftsszenen spielt Müller hier mit einer mythischen Vorstellung von Landschaft als etwas den Menschen Überdauerndes: „Die Landschaft dauert länger als das Individuum. Inzwischen wartet sie auf das Verschwinden des Menschen, der sie verwüstet ohne Rücksicht auf seine Zukunft als Gattungswesen“ (Krieg ohne Schlacht 322). Der Mensch wird in den Weltzusammenhang ein- und untergeordnet. Auch die Handlung in Heiner Müllers Stück nimmt eindeutig auf den Mythos Bezug, wobei dieser im ersten und im dritten Teil etwas schwächer ist als im zweiten Teil, der am stärksten einem klassischen Drama ähnelt und viele intertextuelle Anspielungen auf andere Medea-Versionen enthält. Mythische Figuren sind in der Gestalt von Helden und Heldinnen wie Medea und Jason zu finden, Götter tauchen jedoch nirgendwo im Text auf. Ganz im Gegenteil wird zum Beispiel in der letzten Szene, in der bei Euripides Medea vom Wagen des Helios abgeholt wird, dieses Geschehen durch die menschliche Technik – das Flugzeug und die Bombe – ersetzt. Die Nähe zum Mythos drückt sich nicht nur durch inhaltliche Anspielungen und Paraphrasierungen aus anderen Medea-Bearbeitungen aus, sondern auch durch eine mythisch inspirierte Sprache. Im Text sind immer wieder Zeilen zu finden, die auf Weltschöpfungsmythen zu beziehen sind. Zusätzlich zur Verbindung des Textes mit dem Medea-Mythos werden sprachlich und inhaltlich mythische Symbolik und Sprache aus anderen Kontexten aufgenommen. Der Bezug zum Mythos ist bei Müller also ein synkretistisches Unterfangen. Besonders zu Weltschöpfungs- und Weltuntergangsszenarien als klassische Themen von Mythologie werden eindeutige Verknüpfungen hergestellt. Auch wird durch Müllers Wortwahl, beispielsweise Begriffe aus dem Umfeld von Opferhandlungen, Tod und Blut, eine Nähe zum Archaischen geschaffen. Darüber hinaus folgt Müllers „zeitlicher“ Aufbau des Stücks eher dem mythischen Prinzip im Sinne einer zyklischen Struktur (Canaris 11), das heißt die Abfolge von Handlungen spielt keine Rolle. Verstärkt wird dieser Aspekt 82 durch Müllers Anmerkung, die verschiedenen Teile des Stücks seien als „synchron“ zu lesen oder vielmehr wie ein Bild zu betrachten. Durch sein collagenartiges Einstreuen von Metaphern komponiert Müller den Text wie ein expressionistisches Kunstwerk. Die einzelnen Worte und Satzfragmente wirken sowohl einzeln als auch in ihrer Gesamtheit. Ihre Wirkung entfaltet sich durch die symbolische Bedeutung, die ihnen meist durch ihren Bezug zum Mythos zugewiesen ist. Untermauert wird dies durch den Wechsel verschiedener Handlungs- und Beschreibungsebenen, die sich auf Geschehnisse innerhalb des Medeamythos, auf historische Ereignisse verschiedener Epochen, wie Sklaverei, den Krieg in Jugoslawien oder Filmpremieren, aber auch auf überzeitliche, allgemeingültige Prinzipien, wie das chthonische Verständnis, beziehen. Ein dominantes Thema ist außerdem das Verhältnis Mensch-Natur, das häufig im Mythos reflektiert wird. Durch diese Verknüpfung von mythischer Referenz und zeitgenössischer Ebene wird die Bedeutung der mythischen Welterklärungsbestrebungen als Ausdruck von menschlichen Grundsituationen und Bedürfnissen für den modernen Leser oder Zuschauer hervorgehoben. Müller zeigt somit die Relevanz von mythischen Motiven für die Moderne auf. Dies stellt eine Aufwertung des Mythos gegenüber vorherrschenden rationalistisch-naturalistischen Erklärungsmuster dar. Müller erweitert hier Adornos These über den Wert der Kunst durch die Betonung des Mythos (Mieth (B) 70). Mythos in der Kunst bildet „die ungelösten Antagonismen der Realität“ ab (ibid.). Man könnte an dieser Stelle vorbringen, dass all diese Verweise auf den Mythos, wie das „Medeamaterial“, bei Heiner Müller nur instrumentalisiert werden, um eine Gesellschaftskritik auszudrücken und Missstände aufzudecken. Müller könnte es dabei um eine konkrete Kritik an der Aufrüstungspolitik des Kalten Krieges gehen (Ullrich 878), um eine Kritik am damals rasch expandierenden und radikalisierten Kapitalismus (Horn 62), des rücksichtslosen Umgang des 83 Menschen mit der Natur (Kvistad) oder um eine Kritik an der Unterdrückung der Frau (Ullrich 869). Auch der Titel von Heiner Müllers Autobiographie Krieg ohne Schlacht wirft diese Fragen auf und lässt sie gleichzeitig offen. Vermutlich war es seine Absicht alle diese Konfliktfelder gleichzeitig zu kritisieren und es dem Leser oder Zuschauer zu überlassen, welches er für die relevanteste Problematik hält. In Analogie zum „Krieg mit Schlacht“ wie dem zweiten Weltkrieg, betrachtet Müller auch den Konsumkrieg als Schauplatz der Verwertung vom Menschen als Material im kapitalistischen Wirtschaftssystem. Er prangert an, dass im Kapitalismus „Krieg gegen den Individualismus“ geführt wird, der sich gegen alles richtet, was anders ist, also gegen Sonderlinge, Fremde und Querulanten. Wie in die Analyse von Mauser zeigt, stellen laut Müller aber auch die Revolution und das sozialistische System eine Bedrohung für den Individualismus dar. In jeglichem von rationalen Prinzipien dominierten System ist der Mensch als Material austauschbar. An anderer Stelle weist Müller jedoch daraufhin, dass er Konflikte im „Zeitalter der Technisierung“ für notwendig hält, da sie in ihrer Rebellion gegen Dagewesenes Lebendigkeit repräsentieren: „Der Mörder ist der letzte Mensch der noch Kontakt sucht, während der Rest der Menschheit nur noch auf Rolltreppen aneinander vorbeifährt. In solch einer Welt wird der Mord, der Konflikt zum Statthalter der Humanität“ (Müller 37). Ebenso kann in Müllers Medea-Stück Medea durch ihr gewalttätiges Opfer als Statthalterin der Humanität angesehen werden. Alle diese Missstände verknüpft Müller mit dem Begriff „Zivilisation“, welchen er mit Ausgrenzung und Entfremdung des Menschen von sich selbst in Verbindung bringt. Demnach ist der Mensch „Zwischen zerbrochenen Statuen auf der Flucht vor einer unbekannten Katastrophe“ (80/81). Diese Zeilen beschreiben ein Szenario, in welchem Vergangenes zerstört wurde und ein nicht genanntes Subjekt vor etwas flieht, das es noch gar nicht kennt. Das Subjekt, welches nicht 84 einmal mehr wörtlich greifbar ist, befindet sich in einem Schwebezustand, einem Zustand des Übergangs, in dem als einzige Sicherheit das ungute Gefühl einer Bedrohung herrscht. Neugier und Nachdenklichkeit machen sich in den Gedanken des Lesers breit, der sich fragt: Was ist die Katastrophe und wohin geht die Flucht? Diese Worte scheinen in Heiner Müllers Sprache auszudrücken, was Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung mit den folgenden Worten beschrieben haben: „(…) aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils“ (19). Adorno ist der Meinung, dass reine Rationalität sich gegen den Menschen wenden und zu seinem Nachteil wirken kann. Der Prozess der Aufklärung ist durch seine dialektische Natur voller Schmerz und Spannungen. Das Abbilden dieser Prozesse im Kunstwerk ist, wie Mieth schreibt, notwendig, um die Gesellschaft an sie zu erinnern: „Kunst als Mimesis der Gesellschaft holt deren Verlorenes wieder um den Preis seiner Realität“ (Mieth (B) 71). Da Kunst „Ausdruck der Trauer und des Verlustes“ ist, kann das Kunstwerk diese Prozesse sogar auslösen, somit erfahrbar machen und den Menschen bei Trauerarbeit unterstützen. Kunst birgt die Möglichkeit auf Leid Einfluss zu nehmen, indem sie es zur Sprache bringt (Mieth (B) 71). Der Rückgriff auf den Mythos, dessen Funktion häufig in der Legitimierung bestehender Verhältnisse besteht (Horn 19), kann in diesem Sinne als ironisierende Verwendung zur Aufdeckung und Infragestellung der dominierenden Weltauffassung durch Heiner Müller gedeutet werden. Das ironische Moment entsteht dadurch, dass sich einerseits des Mythos und der Wirkungskraft mythisch anmutender Sprache bedient wird – nicht etwa um zu „verschleiern“, sondern um aufzudecken und erfahrbar zu machen und dass sich andererseits mythischer Sprache bedient wird, nicht um bestehendes zu bestätigen, sondern um es zu kritisieren Somit übernimmt der Mythos die Aufgabe, die oft der Aufklärung zugedacht wurde: 85 „Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt. Sie wollte die Mythen auflösen und Einbildung durch Wissen stürzen“ (Adorno/Horkheimer 19). Laut Adorno und Horkheimer ist der Mythos als „Welterklärungsmodell und Weltanschauungsmodus“ dadurch gekennzeichnet, dass er auf „erfundenen Wahrheiten“ aufbaut (ibid.). Dieses Verständnis liegt auch Adornos und Horkheimers Kritik an der Aufklärung zugrunde. Wie kommt nun aber Müller dazu, gerade im Mythos das Potential zum Sichtbarmachen dieser Problematik zu erkennen? Wie Adorno und Horkheimer betonen, ist „die Ursache des Rückfalls von Aufklärung in Mythologie“ eben nicht das Resultat der Mythologien, sondern liegt „bei der in Furcht vor der Wahrheit erstarrenden Aufklärung selbst“ (19). Das Potential der Aufklärung wird durch ihre Tendenz zur Festschreibung von Erklärungsmustern und der kategorischen Ablehnung von Alternativen verspielt. Müllers Gebrauch des Medeamaterials ist ein Resultat dieser Kritik an der Aufklärung. Wie Eke formuliert, verwendet Müller den Argonautenmythos als „(…) Ausgangs- und Fluchtpunkt einer archäologischen Spurensuche nach den Selbstzerstörungsmechanismen der Aufklärung“ (218). Er repräsentiert den Anfang dieser Selbsteliminierungstendenz des aufklärerischen Denkens (ibid. 220). Müller spricht sich durch die Art und Weise seiner Verwertung des Medeastoffes gegen eine rein „aufgeklärte“ und dem Rationalismus verschriebene Weltsicht aus. Dabei vertritt Müller keine naive und/oder positivistische Auffassung von Mythen, in der er eine mythische Weltsicht als Lösung präsentiert, sondern er kritisiert ein systematisches Denken im Sinne einer Weltauffassung, welche einem totalitären System unterworfen ist. Heiner Müller greift auch den Begriff des „Systems“ auf und verortet dieses in der Geschichte: Der Mensch ist der Feind der Maschine, für jedes geordnete System ist er der Störfaktor. Er ist unordentlich, macht Dreck und funktioniert nicht. Also muß er weg- und das ist die 86 Aufgabe des Kapitalismus, der Struktur der Maschine. Der Logik der Maschine entspricht die Reduzierung des Menschen auf den Rohstoff, auf das Material plus Zahngold. Auschwitz ist der Altar des Kapitalismus. Rationalität als einziges verbindliches Kriterium reduziert den Menschen auf seinen Materialwert (Jenseits Der Nation 39/40). Der Mythos bildet in seiner Auffassung nicht den Gegenentwurf zu diesem „aufklärerischen Erklärungsmuster“, sondern ist im geschichtsphilosophischen Sinne zu verstehen. Der Vorteil von Mythen gegenüber aufklärerischen Texten, so Müller, liegt in ihrem Potential zur Konfrontation. Mythos ist die Form der Erklärung, die am Anfang des Zivilisationsprozesses steht, wobei dieser Prozess von Müller nicht als Fortschritt aufgefasst wird. Hierin hebt sich Müller deutlich von dem in der DDR propagierten kommunistischen Gedankengut ab, das die Entwicklung der Menschheit hin zum Kommunismus als zwangsläufig fortschrittlich darstellt. Müller verkörpert in diesem Sinne ebenso wie Adorno und Horkheimer eine kulturpessimistische Haltung. Dieser Pessimismus kann durch Müllers Erlebnisse im und nach dem 2.Weltkrieg ausgelöst sein, äußert sich aber vor allem in Bezug auf den Kapitalismus. Er sagt im Interview mit Raddatz: „Es geht darum, daß die Toten einen Platz bekommen. Das ist eigentlich Kultur. […] In der kapitalistischen Welt gehen alle Energien dahin, die Toten auszuklammern, auszusondern“ (Jenseits Der Nation 23). Diese Äußerung klingt, als ob Müller direkt auf Adornos Thesen Bezug nimmt. Systematische rationale Erklärungen scheinen nach seiner Ansicht den Menschen nicht befriedigen zu können, vielleicht, weil sie den Menschen unterordnen – das Subjekt wird dem System unterworfen. Ein nach Orientierung bzw. nach sich selbst suchender Mensch bleibt zurück und wird zum Spielball von Beeinflussung. Diese persönliche Auffassung drückt Müller 87 auch aus, wenn er seiner Autobiographie ein Zitat aus seinem Medeastück voranstellt: „Soll ich von mir reden Ich wer/ von wem ist die Rede wenn/ von mir die Rede geht Ich wer ist das“ (Einleitendes Zitat in Müllers Autobiographie 11 und Medea 80). Durch ihre Geschichtlichkeit (d.h. Anknüpfung an Vorher-Dagewesenes) bestätigen Mythen den Menschen als Individuum, denn laut Müller benötigt das „Ich“ zur Selbsterkenntnis die Differenz: „Wer mit sich identisch ist, der kann sich einsargen lassen, der existiert nicht mehr, ist nicht mehr in Bewegung“ (Müller 31). Die Rückversicherung durch Mythen ist deswegen für den Menschen eine Erleichterung, weil diese Abstraktem eine Form geben. Mythen bieten Anknüpfungspunkte und sind zur menschlichen Kommunikation (wie zum Beispiel auch mittels eines Theaterstücks) geeignet: „(…) das Problem Hoffnung und Verzweiflung ist ja doch wahrscheinlich etwas historisch Entstandenes (…) für die vorchristliche Antike war das gar kein Problem“ (Filmskript zur Sendung ‚Heiner Müller’ 8:46). Mythen fördern nicht „die ultimative Wahrheit“ zu Tage, sondern beinhalten Bilder, die es dem Menschen ermöglichen, mit Grundfragen des Menschseins „in einen Dialog/in Verbindung zu treten“. Mieth lokalisiert Heiner Müllers Texte demnach zwischen „Brechts teleologisch fundiertem Geschichtsbild“ und „Adornos postteleologischem“ Denken (Mieth (B) 20). In Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten geht Heiner Müller über Adornos Idee einer negativen Dialektik hinaus, weil er Mythen eine positive Funktion zuschreibt. Er konzipiert deshalb nicht nur seine Stücke im Sinne der negativen Dialektik, sondern betreibt gleichzeitig „Mimesis“ an den Mythos. Dadurch löst er sich stärker als Adorno von den rationalen Strukturen des aufklärerischen Denkens. Er erzeugt eine kritische Distanz zu den Paradigmen der Aufklärung und vollzieht selber eine Emanzipation von diesen in der Form seines Stücks. 88 Medea opfert sich nicht selbst im Sinn einer christlichen Märtyrerideologie oder wie die später von Adorno/Horkheimer beschriebene Form einer Selbstaufgabe an das System, sondern ihr Ich, ihre Subjektivität wird transzendiert. Sie geht über und geht auf in der Landschaft. Sie löst den Konflikt zwischen Außen und Innen und wird „ganz“. Individuum und Umfeld stehen nicht mehr entgegengesetzt zueinander, sondern gehen ineinander auf. Es ist der Beginn eines neuen Zyklus, indem sich das Ich wieder von der Landschaft löst. Das Drama beginnt von vorne. 89 Chapter V Zusammenfassung Wie ist nun also in den vorgestellten Werken Heiner Müllers der Zusammenhang von Mythos, negativer Dialektik und Pragmatik zu verstehen? Müller fühlte sich in seinem literarischen Schaffen der verschiedenen Jahrzehnte zu Themen aus der antiken griechischen Mythologie hingezogen und verarbeitet diese Stoffe in zahlreichen Werken, von denen in dieser Arbeit drei betrachtet wurden. Zusätzlich zu dem Rückgriff auf griechische Mythologie bedient er sich der Motivik des christlichen Mythos. Seine Rezeption dieser verschiedenen mythischen Themen erfolgt in vielfältiger Form. Er verwendet Namen und Motive, spielt auf Handlungen aus mythischen Erzählungen und auf Formulierungen aus der christlichen Liturgie an. Zudem liegt den vorgestellten Werken eine dialektisches Konzeption der Themen und Personen zu Grunde, welches durch den Einbau und Überbau mythischer Elemente und durch Anspielungen auf den Mythos deutlich gemacht wird. Der Unterschied zwischen Mythos und Aufklärung ist demnach nicht so groß wie häufig angenommen. In den Werken, die in dieser Arbeit untersucht wurden, wird vor allem deutlich, dass der „Fortschritt“ der Zivilisation durchdrungen ist von Aspekten der Barbarei und der Irrationalität, denn das Welterklärungsbestreben, das sich vom Mythos lösen will, folgt einer Scheinrationalität. Diese Auffassung ist in Müllers Medea-Stück besonders sichtbar. Müllers Verständnis von Dialektik ist dabei ähnlich dem von Adorno. Adorno benennt Negation als das Grundprinzip der Dialektik. Durch Negation können Begriffe und Konzepte und damit einhergehend der künstlich erzeugte Zusammenhang zwischen Wort und Sache in Frage gestellt werden. Voraussetzung für diese Betrachtung ist die Annahme, dass Sache und Begriff nicht identisch sind. Eine Identifikation ist nur durch Zwang möglich und so beschreibt 90 Adorno das Hinterfragen der Identifikation als Potential der negativen Dialektik: „Diese Richtung der Begrifflichkeit zu ändern, sie dem Nichtidentischen zuzukehren, ist das Scharnier der negativen Dialektik“ (Adorno 22). Adorno erkennt in der negativen Dialektik das Potential für eine kritische Philosophie, die sich selbst immer wieder anzweifelt: „Die Entzauberung des Begriffs ist das Gegengift der Philosophie“ (Adorno 22). Sobald die Nichtidentifikation benannt wird, wird sie zu einer neuen Festschreibung einer Sache im Begriff und somit zu einem zwanghaften Zusammenhang29. Identifikation ist laut Adorno zwar ein Grundprinzip des Denkens, die totale Identifikation führt allerdings zu „Unwahrheit“ (Adorno 15 f; 141/142). Adorno versteht die negative Dialektik als Antisystem, welches den Identifikationszwang zu durchbrechen sucht: „Spricht man in der jüngsten ästhetischen Debatte vom Antidrama und vom Antihelden, so könnte die Negative Dialektik, die von allen ästhetischen Themen sich fernhält, Antisystem heißen. Mit konsequenzlogischen Mitteln trachtet sie, anstelle des Einheitsprinzips und der Allherrschaft des übergeordneten Begriffes die Idee dessen zu rücken, was außerhalb des Bannes solcher Einheit wäre.“ (Adorno 8) Im Gedicht Orpheus gepflügt wird die Dialektik durch die Parallelisierung und Verschachtelung von Elementen aus dem Orpheusmythos und der Ebene der banalen und ungerechten Alltagswelt erzeugt. Mauser erzielt die dialektische Verschachtelung durch die Anspielungen auf den christlichen Mythos der Auferstehung und die Parallelisierung von revolutionärer und märtyrhafter Selbstopferung. In Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten 29 Dabei unterscheidet sich Adornos Vorstellung von Dialektik in dem Punkt von Hegels Dialektik, wo er sagt, dass Bejahung nicht durch die Negation der Negation, zu erreichen ist (Adorno 146). Adorno warnt vor einer Bejahung der Negation, da diese das Potential der negativen Dialektik untergräbt, indem sie selbst die Negation widerruft und dadurch zur Identifikation führt, in der „das antidialektische Prinzip die Oberhand“ gewinnt (ibid 7; 160). 91 geht Heiner Müller über eine rein dialektische Konzeption des Stücks hinaus. Es finden sich auf der Ebene der Bilder und in der Komposition der Figuren dialektische Spannungen. Das Stück kann auf der Makroebene aber auch als Mimesis an den Mythos betrachtet werden. Die Abgrenzung zwischen mythischem Denken und aufgeklärtem Denken wird in Müllers vorgestellten Texten zunächst abgebildet und identifiziert und dann als Schein-Differenz entlarvt, welches das Hinterfragen der Identifikation zur Folge hat. In Orpheus gepflügt wird diese Reflektion durch die Mehrdeutigkeit erzeugt. Mauser als Exempel für Müllers „Experiment mit dem Lehrstück“ kombiniert Müllers typische Vorgehensweise einer dialektisch kontrastierenden Parallelisierung mit Brechts Vorgaben für ein Lehrstück. Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten setzt den dialektischen Anspruch auf der Ebene der Motive, Personen und der Struktur des Stücks um. Durch die dialektische Verschachtelung und die erzeugten Spannungen wird Identifikation erschwert: „Was Kunst vermag, ist, die Illusion personaler Identität zu zerstören“ (Jenseits der Nation 31). Schein-Differenz wird erzeugt und als solche, nämlich als künstliche Differenz, aufgedeckt. Damit setzt Heiner Müller Adornos Anspruch an Kunst um, denn Mimesis beschreibt dabei die Form der Abbildung, die nicht behauptet totale Identifikation zu sein und sich somit dem totalen System entzieht (Adorno 24). Anders als Adorno betont Heiner Müller jedoch den mythischen Pol in der Dialektik gegenüber dem rationalen und zivilisierten. Wenn schon Adorno eine „Modernitäts- oder Fortschrittsfeindlichkeit“ vorgeworfen wurde, so kann man diese Skepsis gegenüber der modernen Zivilisation definitiv noch stärker aus Heiner Müllers Werken herauslesen. Die dialektische Konzeption nutzt Heiner Müller deshalb, um durch seine Werke einen pädagogischen Einfluss auszuüben. Leser oder Zuschauer nehmen die durch negative Dialektik aufgebauten Spannungen wahr und reagieren darauf durch Reflektion. Müller beschreibt dies in 92 folgenden Worten: „Außerhalb der syntaktischen Ordnung wird etwas mitgeteilt, was nicht mitteilbar ist. Daran muß der Leser arbeiten (…). Wer aber nicht mehr weiß, wer, was und wo er ist, der muß sich bewegen. Das ist das revolutionäre Moment an dieser Art Text, sie schaffen Veränderung“ (ibid.). Dieses gezielte Auslösen eines kritischen Denkprozesses wird in dieser Arbeit als Pragmatisierung verstanden. Wie bereits Adorno anmerkte, bergen insbesondere Spiel und Mimesis das Potential in Kombination mit negativer Dialektik, dem Diktat der Festschreibung von Begriffen, das eine feste Platzierung in einem totalen System voraussetzt, zu entkommen. Nach Auffassung Adornos birgt vor allem das Moment des Spiels die Möglichkeit eine „Verwissenschaftlichung“ von Philosophie im Sinne einer Zementierung von Strukturen zu meiden: „Gegenüber der totalen Herrschaft von Methode enthält Philosophie, korrektiv, das Moment des Spiels [Hervorhebung im Original], das die Tradition ihrer Verwissenschaftlichung ihr Austreiben möchte“ (Adorno 22/23). Diese These Adornos lässt sich auf Weltanschauungssysteme, welche Herrschaftssysteme legitimieren, ausdehnen. In diesem Sinne nutzt Heiner Müller in seinen Werken Mythen um dialektische Spannungen aufzubauen und Zivilisationskritik vorzubringen. 93 Literaturverzeichnis Adorno, Theodor W. und Max Horkheimer. Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1981. Print. Adorno, Theodor W. Kulturkritik und Gesellschaft. In: Gesammelte Schriften, Band 10.1: Kulturkritik und Gesellschaft I, „Prismen. Ohne Leitbild“. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977. Print. Benn, Gottfried. Essays und Reden in der Fassung der Erstdrucke. Frankfurt: Fischer, 1989. Print. Blumenberg, Hans. Arbeit am Mythos. Frankfurt: Suhrkamp, 1979. Print. Bock, Ursula. Die Frau hinter dem Spiegel: Weiblichkeitsbilder im deutschsprachigen Drama. Berlin: LIT Verlag, 2011. Print. Brecht, Bertholt. Brecht Werke: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. 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